"Zu Hitler fällt mir nichts ein", schrieb Karl Kraus 1933 als Eingangssatz zu seinem Essay „Die dritte Walpurgisnacht“. Die österreichische Geschichtsforschung und Politik hat die Person Hitler immer liebend gern verdrängt und sich mit seiner österreichischen Herkunft und Jugendzeit auffallend wenig beschäftigt. Die große Ausnahme bildet Brigitte Hamann, die aber auch keine Österreicherin ist, sondern eine Deutsche, die nach Wien geheiratet hatte. Und auch sie hat den Ursprung des Hitler’schen Antisemitismus an seine Münchner Zeit weitergereicht. Das passt auch zum österreichischen Umgang mit dem Geburtshaus in Braunau, das man gerade hinter einer behübschten Fassade verschwinden lassen will.
Die deutschen und internationalen Biografen Joachim Fest, Ian Kershaw, Peter Longerich, Hans-Ulrich Thamer, Volker Ullrich und zuletzt Brendan Simms haben in ihren großen Werken der Herkunft und Kindheit des Diktators zwar jeweils ausführliche Beachtung geschenkt. Doch es gibt ein großes Manko: Es gibt kaum Quellen. Die Forschung tritt auf der Stelle. Ein Rezensent hat unlängst kritisch angemerkt, dass seit den 1950er-Jahren zu Hitlers Kindheit und Schulzeit zwar sehr viel Kluges geschrieben wurde, aber dieselben Fehler ständig ungeprüft weiter tradiert würden und keine relevanten neuen Quellen mehr gefunden werden konnten.
Das hat sich mit einem Schlag verändert, als mir ein dickes Bündel vergilbter Briefe von Adolf Hitlers Vater in zeittypischer Kurrentschrift zur Bearbeitung überlassen wurden, die auf einem Dachboden unentdeckt den Kahlschlag der NS-Zeit überdauert hatten. Diese sehr inhaltsreichen und ausführlichen Briefe, die Alois Hitler an den Straßenmeister Josef Radlegger geschrieben hatte und die transkribiert immerhin einen Bestand von fast 70000 Zeichen ausmachen, bieten nicht nur erstmals Ego-Dokumente zu Hitlers Familie, sondern eröffnen auch einen völlig neuen Blick auf jene Person, die auf Adolf Hitler zweifellos den größten Einfluss hatte, auf seinen Vater, und auf die Lebensumstände, unter denen der kleine Adolf in Oberösterreich aufwuchs. Solch ein Fund musste für mich als langjährigen Ordinarius für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Linz fast zwangsläufig den letzten Anstoß geben, Hitlers Kindheit und Jugend in Oberösterreich nochmals aufzurollen.
Hitlers Herkunft ist von Mythen umgeben: Die uneheliche Geburt seines Vaters, der unsichere Großvater, bei welchem man immer wieder auch einen Juden ins Spiel brachte, die Großmutter, die in nahezu allen Veröffentlichungen mit ihrer um ein Jahr älteren Schwester verwechselt wird, das um gleich neun Jahre falsche Datum der ersten Heirat des Vaters, die falschen Geburts- und Sterbedaten von Hitlers behindertem Bruder Otto, die Hauskäufe des Vaters, die als kleinbäuerliche Hobbys eines Bienenzüchters oder Kleingärtners abgetan wurden, obwohl es sich in beiden Fällen um Höfe mit mehr als 20 Hektar Nutzfläche, also vergleichsweise große Wirtschaften handelte, oder das auffällige Fehlen einzelner Wohnadressen, obwohl 1938 alle Hitler-Wohnsitze in Oberösterreich mehr oder weniger unter Denkmalschutz gestellt wurden. Das mögen Lappalien sein. Aber sie haben Bedeutung. Und es ist bezeichnend, dass sich über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg niemand die Mühe gemacht hat, die Daten nachzuprüfen. Klischees dominieren: der cholerische, gewalttätige Vater, die liebevoll, verzärtelnde Mutter, der gescheiterte Schüler, der verkrachte Kunststudent …
Der junge Hitler bietet wegen der dramatischen Quellenarmut ein weites Feld für Vermutungen und Konstruktionen. Man suchte nach den familiären, inzestuösen oder homophilen Verwerfungen, nach den katholischen Wurzeln, den ideologischen Wegbereitern und den geistigen Vorbildern. Man fand tiefenpsychologische und milieubedingte Erklärungen. Für die einen ist Adolf Hitler das vom Vater geschlagene und von der Mutter verzärtelte Kind, für die anderen der verkrachte Schüler und gescheiterte Künstler, der vagabundierende Männerheimbewohner oder der über seine Verhältnisse lebende Kleinbürger. Für die einen ist er ein mittelmäßiger Provinzler, für die anderen der schon in der Jugend charismatische Gewaltmensch, für Peter Longerich, einen der neuesten Biografen, als Jugendlicher ein „Niemand“, für andere ein „Jemand“, dessen Führungsanspruch bereits in der Kindheit und Jugend vorgezeichnet war.
Es gibt eigentlich nur drei ausführlichere Quellen, von denen alle weiteren Darstellungen zu Hitlers Kindheit und Jugend ausgehen. Quellen im historiografischen Sinn möchte man sie ja gar nicht nennen, weil sie eigentlich aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus mehr oder weniger Kampfschriften darstellen: Erstens Hitlers Autobiografie „Mein Kampf“, die explizit als Propagandaschrift gedacht war und als solche ein schwer entwirrbares Konglomerat aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und glatten Lügen darstellt. Zweitens August Kubizeks Zeitzeugenbericht „Hitler. Mein Jugendfreund“, der 1953 in Druck erschien und seither mehrmals neu aufgelegt wurde, ohne ihn kritisch zu hinterfragen, und drittens Franz Jetzingers 1956 veröffentlichte Darstellung zu Hitlers Jugend.
Jetzingers Buch ist eigentlich als Werk der Geschichtsschreibung und nicht als Quelle einzustufen. Er hat Hitler persönlich nicht gekannt und ist mit ihm nie zusammengetroffen, ist aber unverzichtbar, weil er heute nicht mehr verfügbare Zeitzeugen interviewt und einige wichtige, inzwischen verlorene Dokumente zusammengetragen hat, auch wenn seine Arbeit bedingt durch die damaligen Umstände voller Fehler ist.
Während Jetzinger wie ein Historiker arbeitete, kommt August Kubizek die Qualität eines unmittelbaren Zeitzeugen zu, obwohl er mit Hitler nur zweieinhalb Jahre in Kontakt war, von Ende 1905 bis Mitte 1908. Im Jahr 1943 schrieb er seine Erinnerungen im Auftrag der NSDAP in zwei dünnen Heften nieder. Unter Mithilfe zweier geübter Ghostwriter, der beiden hochrangigen Nationalsozialisten Karl Springenschmid und Dr. Franz Mayrhofer, wurde das Manuskript im Jahr 1953 zu einem am Lesergeschmack orientierten und um eine Liebesgeschichte ergänzten Buch ausgeweitet. Aus den ca. 60 Druckseiten, die die beiden Teile des Urmanuskripts ergeben hätten, machten die beiden Ghostwriter ein Buch mit 352 Seiten. Dass deren Einfluss nicht unwesentlich gewesen sein konnte, geht schon daraus hervor, dass die drei Autoren sich die Tantiemen dritteln oder in einem Schlüssel fünf zu vier zu drei aufteilen sollten, obwohl der 1908 in Linz geborene Mayrhofer für Hitlers Jugendzeit keinerlei eigene Erfahrung einbringen konnte und der 1897 in Innsbruck geborene Karl Springenschmid noch viel weiter weg vom Geschehen gelebt hatte. Die drei entwickelten aber beträchtliche Energien, um Hitlers Jugendgeschichte als Vorschule seines späteren Auftretens als „Führer“ erscheinen zu lassen.
Man muss von Glück sprechen, dass nunmehr auch der erste Teil der Urfassung von Kubizeks Erinnerungen aus dem Jahr 1943 mit 106 Blättern in zweizeiliger Schrift aus dem Besitz der Enkelin aufgetaucht ist. Die beiden Fassungen von 1943 und 1953 unterscheiden sich nicht nur im Umfang, sondern auch in den Schwerpunktsetzungen. Die Unterschiede liegen nicht nur in der sprachlichen Schwäche der ersten Fassung und in den gefälligen Teilen, die 1953 hinzugefügt wurden, sondern vor allem auch in jenen Passagen, die 1943 enthalten waren und 1953 gestrichen wurden.
Die spektakulären Funde noch weiterer bislang völlig unbekannter Quellen und die neuen Möglichkeiten der digitalen Recherchen in an sich bekannten Quellen, vor allem in den Matriken und in den zeitgenössischen Tageszeitungen, haben die Erkenntnismöglichkeiten zu einem Thema, von dem man überzeugt war, dass es eigentlich von vorne bis hinten zu Ende geforscht oder überhaupt nicht erforschbar ist, beträchtlich ausgeweitet.
Neunzehn Jahre, das erste Drittel seines Lebens, hat Adolf Hitler in Oberösterreich verbracht, sein Vater Alois praktisch sein ganzes Erwachsenenleben. Alois hat hier Karriere gemacht und es zu einigem Ansehen gebracht. Adolf hat seine Zeit in Oberösterreich als die wichtigsten und glücklichsten Jahre seines Lebens gesehen. Er hat hier die entscheidenden Linien seines verhängnisvollen Denkens und Handelns eingeprägt erhalten. Die in Oberösterreich aufgenommenen Eindrücke und Verhaltensweisen haben ihn bis zu seinem Ende im Berliner Führerbunker nicht losgelassen.
Doch vieles ist von Rätseln umgeben. Wie konnte ein Kind aus den entlegensten Winkeln des Landes und ohne wirklich gute Schulbildung, eigentlich ein Versager und Autodidakt, derartige Erfolge feiern? Wie konnte sich in dem provinziellen Milieu, in dem er aufwuchs, ein solch diktatorischer Charakter ausbilden, der so viele in den Bann zu ziehen vermochte? Wie konnte aus einer Familie, die für die Zeitgenossen wenig Auffälliges beinhaltete, ein Gedankengut entwickelt werden, das zur Zerstörung eines ganzen Landes und zur Auslöschung so vieler Juden und sonstiger rassisch diskriminierter Gruppen fähig war? Wie, wann und warum haben sich Hitlers Denkmodelle, Vorurteile und Leitbilder ausgebildet?
"Pfeife rauchen, im Wirtshaus sitzen, Bienen züchten, Kinder schlagen." Das ist der Grundton der bislang kolportierten Aussagen über Hitlers Vater: zu Hause ein Patriarch, im Dienst ein Pedant, in der Öffentlichkeit rechthaberisch, gegen die Kinder ein brutaler Despot. Auch das Bild, das von der Mutter bis heute gezeichnet wird, entspricht dem Klischee, das schon Goebbels von ihr vorgegeben hat: „Die Mutter, sagen seine Jugendfreunde, war lieb und herzensgut. Der Vater barsch, schweigsam und streng.“
Die neuen Quellen erlauben einen sehr viel differenzierteren Blick, nicht nur auf das Familienleben und die Finanzgebarung, sondern auch auf soziale Einstellungen und Strategien: Alois Hitler war sicher kein angenehmer Ehemann, Familienvater, Arbeitskollege und Staatsbürger. Was er aber sicher nicht war, war ein Alkoholiker oder Müßiggänger, der seine Zeit im Wirtshaus und in der Bienenhütte vergeudet hätte, auch kein Spießbürger oder Provinzbeamter, dessen Horizont nicht über Braunau hinausgereicht hätte, auch kein Ehemann, der die Familie seinen eigenen sexuellen Bedürfnissen oder seinem beruflichen Fortkommen gänzlich untergeordnet hätte, und schon gar nicht ein Kinderschänder und Teufelsbeschwörer, als den ihn Norman Mailer in seinem Hitler-Roman hingestellt hat.
Alois Hitler scheiterte auf vielen Feldern: als Vater, Ehemann, Erzieher, Wirtschafter und letztlich auch als Mensch, ohne viel Freunde und ohne wirkliches Zuhause. Aber die Quellen zeigen auch andere Seiten: Die fast sklavische Nachahmung des Vaters durch den Sohn, beginnend mit den zum Verwechseln ähnlichen Unterschriften bis hin zur Verachtung allen Schulwissens und der Selbstgewissheit des Autodidakten, die den Vater wie den Sohn kennzeichnete.
Auch die Mutter erhält ein anderes Gesicht. Ein Hausmütterchen war sie sicher nicht. Sie war nicht ungebildet und sie war keine unterdrückte Gattin, die vom Mann nur ausgenutzt worden sei, die vier ihrer sechs Kinder früh verloren hatte und mit 47 Jahren unter großen Schmerzen an Krebs verstarb, sondern sie war auch eine sehr strukturiert disponierende Hausfrau und wichtige Teilhaberin am Hitler’schen Vermögen, die mitten im Leben stand und eine durchaus selbstbewusste Frau gewesen sein musste. Sie ging von Hafeld nach Fischlham auf die Post, um Korrespondenzen zu erledigen, nach Lambach auf die Sparkasse, um Geld zu beheben, reiste nach Weitra, um auf Sommerfrische zu gehen. Sie bewirtschaftete den Garten, half beim Melken des Viehs, rupfte die Hühner, zerlegte das geschlachtete Schwein. Sie trank im Gasthaus dann und wann ein Glas Bier und im Haus den alkoholreichen Apfel- und Birnenmost. Vor allem kam von ihr eine Erbschaft, mit der das Haus finanziert wurde. Sie besaß ein Sparbuch und stand im Grundbuch mit einem Hälfteanteil. „Meine Frau ist gerne thätig und besitzt die nöthige Freude und auch das Verständnis für eine Ökonomie“, schrieb Alois Hitler im Jahr 1895 an Josef Radlegger.
Für Hitlers Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, für sein totalitäres Denken, seine Kirchenfeindschaft, seinen Tschechen- und Slawenhass, seinen Antisemitismus und für seinen biologistischen Rassenwahn sind die Wurzeln in seiner Kindheit und Jugend zu suchen. Für seine Erfolge bei den Massen, darüber sind sich alle Beobachter einig, bildeten seine Sprache und Rhetorik die entscheidenden Faktoren. In Hitlers Familie wurde oberösterreichischer Dialekt gesprochen. Seine Briefe schrieb der Vater in einem verschnörkelten Amtsdeutsch, in das sich stets die mundartliche Färbung und der Gebrauch von Dialektausdrücken mischten: „Fadeln“ statt Ferkeln, „Dirn“ für Magd, „Troad“ für Getreide und „Gfrett“ für Ärger.
Als der junge Adolf mit zehn Jahren erstmals in der Linzer Realschule in ein Milieu kam, wo Hochdeutsch gesprochen wurde, muss ihm das beträchtliche Schwierigkeiten bereitet haben. In „Mein Kampf“ schrieb er: „Mein Deutsch der Jugendzeit war der Dialekt, den auch Niederbayern spricht; ich vermochte ihn weder zu vergessen, noch den Wiener Jargon zu lernen.“ Später kokettierte er zwar immer wieder mit seinem österreichischen Deutsch, verfiel im Stress oder in privaten Situationen auch dann und wann in Dialekt. Aber seine Erfahrungen im Umgang mit der Sprache wie auch sein Streben, die regionalen Mundarten ebenso wie die deutsche Schrift zu beseitigen, entwickelte er aus der Opposition zu den regionalen Erfahrungen in Oberösterreich. Er sah die gemeinsame Hochsprache ebenso wie die überall lesbare lateinische Schrift als Instrument einer deutschen Vorherrschaft in Europa und der Welt.
Will man Hitlers Verhältnis zur Religion verstehen, muss man seine Kindheitsgeschichte in dem vom Kulturkampf geprägten Oberösterreich kennen. Das Äußere des katholischen Glaubens legte Adolf Hitler wie sein Vater trotz seiner weitgehenden Glaubenslosigkeit nie ab. Die tote Hülle der Kirche bestimmte sein Handeln mehr, als man glauben möchte: die Zeremonien und Rituale der Aufmärsche, die biblischen Formeln in seinen Reden und selbst die formale Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Hitler wollte Gott nicht absetzen, sondern für seine Zwecke instrumentalisieren. Er wollte nicht nur Parteiführer und Staatsführer, sondern auch Kirchenführer sein. Er wollte der Papst einer deutschen Kirche sein, in der Gott durch die „Vorsehung“ ersetzt ist und das Volk unverrückbar an den von dieser Vorsehung bestimmten und unfehlbaren „Führer“ glaubt. Nicht viel anders dachte schon der Vater.
Ein fanatischer Deutschnationaler, schreibt Adolf Hitler in „Mein Kampf“, sei er schon in Linz gewesen und es dort auch geworden. Deutschnationale Strömungen und Slawenfeindlichkeit waren in der Stadt im Überfluss präsent. Der Sprachenkonflikt, der die Habsburgermonarchie zu sprengen drohte, tobte in Linz ganz besonders heftig, obwohl Oberösterreich innerhalb des Vielvölkerstaats neben Salzburg das einzige Kronland war, das sprachlich und national praktisch völlig homogen deutsch war. Die Schule spielte dabei eine zentrale Rolle. Es ist auffällig, dass die zwei eng miteinander verknüpften Linzer realkundlichen höheren Schulen, die Realschule und das Realgymnasium, drei der prominentesten Nationalsozialisten des Großdeutschen Reichs zu ihren Schülern rechnen müssen: neben Adolf Hitler auch Ernst Kaltenbrunner und Adolf Eichmann.
Über die Anfänge des Hitlerschen Antisemitismus gibt es drei Zeitzeugenberichte, die sich in ihren Aussagen diametral widersprechen. Hitler selbst verlegte in „Mein Kampf“ sein antisemitisches „Erweckungserlebnis“ in die Wiener Zeit, während er im Elternhaus und in der Linzer Schulzeit davon noch kaum berührt worden sei. Hitlers Jugendfreund Kubizek hingegen behauptete, Hitler sei, als er ihn in Linz kennenlernte, bereits ausgesprochen antisemitisch eingestellt gewesen und sei schon als ausgewiesener Antisemit nach Wien gekommen. Und Hitlers Wiener Freund Reinhard Hanisch behauptete, Hitler sei auch in der Wiener Zeit noch gar kein Antisemit gewesen, weil er viel und freundschaftlich mit Juden verkehrt habe.
Entsprechend uneins ist sich auch die Wissenschaft, ob Hitlers antisemitische Einstellungen schon im oberösterreichischen Elternhaus und in der Linzer Realschulzeit, in seinen Wiener Jahren oder überhaupt erst mit der beginnenden politischen Betätigung in München nach dem Krieg entstanden und gewachsen seien. Es ist schon eigentümlich, dass nahezu alle neueren Autoren und Autorinnen zwar Kubizek seitenweise abschreiben, ihm aber gerade dort nicht glauben, wo er am glaubwürdigsten ist. Denn Kubizek hat die Aussagen zu Hitlers schon in Linz vorhandener dezidierter Judenfeindschaft schon im Jahr 1943 geschrieben und sich damit in einen expliziten und für ihn damals sicher nicht ungefährlichen Gegensatz zu Hitlers Behauptung in „Mein Kampf“ begeben. Auch zahlreiche weitere, teils immer schon bekannte, teils jüngst durch Hannes Leidinger, Christian Rapp und Thomas Weber entdeckte Fakten belegen den bereits in Wien vorhandenen und in die Linzer Zeit zurückreichenden Antisemitismus.
Schon als Sechzehnjähriger fantasierte Hitler laut Kubizeks Erstfassung auch über unwertes Leben, Rassenreinheit und Rassenbiologie: Brautleute sollten ein Gesundheitsattest beibringen, aus dem die Ehetauglichkeit einwandfrei hervorgeht, sodass eine gesunde Nachkommenschaft gesichert sei. Die Kosten für die ungezählten „Idiotenanstalten und Irrenhäuser“ würden damit verschwinden und viele Mittel freigemacht. Das entspricht dem politischen Diskurs in Oberösterreich um 1900, wo die Frage der „Asozialen“ und „Zigeuner“ eine wichtige Rolle einnahm. Eine Zwangskennzeichnung durch „Haare Scheren“ wurde ebenso gefordert wie ihre Konzentrierung in Lagern und Abschiebung. Man solle die Judenfrage „so vernünftig wie die Zigeunerfrage“ behandeln, meinte der zutiefst antisemitische Führer der oberösterreichischen Deutschnationalen Carl Beurle im Jahr 1901 und meinte damit Abschiebungen und andere Zwangsmaßnahmen.
Verschanzt im Berliner Führerbunker versenkte und flüchtete Hitler sich unter dem Bombenhagel des April 1945 zurück in die wirre Traumwelt seiner Kindheit. Seine letzten Tage verbrachte er vor dem Modell von Linz, das er sich in den Bunker hatte schaffen lassen. Er starrte darauf, erging sich in delirischen Träumereien, verbrannte das Foto der Mutter, zerbrach die Taschenuhr des Vaters, nahm ein paar Tabletten und entzog sich durch einen Schuss seiner Verantwortung.
Roman Sandgruber