Mit einem tröstlichen Projekt sollen die Bewohner Londons in diesen harschen Lockdown-Zeiten aufgeheitert werden. Der US-Künstler Leo Villareal leuchtet zur Zeit die Brücken der britischen Metropole eine nach der anderen bunt und auf individuelle Weise aus. Wie ein schön illuminiertes Band soll sich die Themse durch die Corona-Nacht ziehen. Spötter fragen bereits, ob diese Beleuchtung denn auch unter Wasser noch funktionieren würde – falls nämlich alles, was sich über die Themse spannt, demnächst in die Tiefe plumpst.
So weit muss es ja nicht kommen. Aber die Sorge ist durchaus verständlich. Viele der Brücken in London haben die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht. Für das Verkehrsvolumen, mit dem sie heute fertig werden müssen, sind sie nie gebaut worden. Heißere Sommer haben, im Zuge fortschreitenden Klimawandels, die Bausubstanz zusätzlich angegriffen. Und vielerorts sind nötige Reparaturen aufgeschoben worden. Vor allem seit die Austeritätspolitik David Camerons nach 2010 dazu führte, dass sich die Gemeindekassen überall leerten Jahr für Jahr.
Inzwischen mehren sich die Fälle, in denen plötzlich auftauchende Verbotsschilder eine Brücken-Befahrung – oder auch nur ein Begehen von Brücken – verhindern. Voriges Jahr wurden sowohl die London Bridge wie die Vauxhall Bridge für „unmittelbar erforderliche Ausbesserungsarbeiten“ gesperrt. Vauxhall Bridge befinde sich in ausgesprochen schlechtem Zustand, klagten Bauingenieure. Bei der Tower Bridge, der berühmtesten aller Brücken, klemmte eines Tages das Räderwerk, konnte die hochgeklappte Fahrbahn nicht mehr herunter gelassen werden. Kurzfristig herrschte Chaos vor Ort. Auf der Liste der „Sorgenkinder“ stehen auch Chiswick Bridge und Westminster Bridge, die Brücke vorm Parlament.
Wer soll das bezahlen
Eine Brücke, die historische Hammersmith Bridge im Londoner Westen, ist derweil zum Inbegriff der Brücken-Misere an der Themse geworden. Die schöne gusseiserne Brücke aus der viktorianischen Ära, die den Verkehr in diesem Teil der Stadt seit 1887 am Rollen hielt, ist buchstäblich unbenutzbar geworden. Und das wahrscheinlich auf Jahre hin. Im Sommer letzten Jahres wuchs die Besorgnis nach zwei Hitzewellen dermaßen, dass auch Fußgänger und Radfahrer am Überqueren gehindert wurden. Nicht mal die in diesem Abschnitt des Flusses sich sonst tummelnden Ruderboote dürfen sich der Brücke nun noch nähern oder gar unter ihr hindurch fahren. Rund um die Uhr halten Wachleute jedermann von der Brücke fern.
Überlegungen hat es bereits gegeben, die Brücke ganz abzureißen und durch eine neue zu ersetzen. Aber dagegen spricht, dass Hammersmith Bridge unter Denkmalschutz steht – und die Erstellung einer neuen Brücke ebenfalls mehrere Jahre in Anspruch nähme und nicht viel günstiger käme als der Erhalt der gegenwärtigen Struktur. Aber nicht nur physische Probleme bremsen, hier wie an anderen Themse-Brücken, die erhoffte Rückkehr zu „normalen“ Verhältnissen. Auch das Finanzielle und die Frage der Zuständigkeit sind ein Problem.
Seit der Zerschlagung der Gross-Londoner Administration durch Margaret Thatcher in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts ist für Hammersmith Bridge der Gemeinderat von Hammersmith und Fulham zuständig. Der aber hat nicht das Geld für eine solche Mammut-Reparatur. Denn die rund 140 Millionen Pfund (160 Millionen Euro), die dafür veranschlagt sind, entsprechen ziemlich genau dem jährlichen Gesamtbudget der Gemeinde. Ein bitteres Gerangel um Geld und Verantwortung hat sich in der Folge dieser Weigerung entsponnen. Die Gemeinde besteht darauf, dass das Verkehrsministerium, das der Staat für die Instandhaltung eines „strategischen Wertes“ dieser Art aufkommen muss.
Die Tory-Regierung wiederum beharrt darauf, dass der Gemeinderat mindestens die Hälfte der Rechnung übernimmt – und notfalls die Gemeindesteuern kräftig anhebt. 600 Pfund (685 Euro) extra im Jahr könnte die Brücken-Reparatur jeden Steuerzahler in der Gemeinde kosten, glaubt man im Rathaus von Hammersmith. Ironischerweise ist nun, da über Hammersmith Bridge gestritten wird, erneut von der Erhebung von Brückenzöllen die Rede.
Was die langjährige Unterfinanzierung britischer Infrastruktur und das administrative Chaos speziell in London betrifft, so betrachtet Verkehrsexperte, Tony Travers, das Spektakel von Hammersmith jedenfalls als typisch: „Wenn man so will, kann man Hammersmith Bridge als Metapher für den gegenwärtigen Zustand Großbritanniens sehen.“ Zutiefst beschämt ist man an der Themse darüber, dass das Hammersmith-Debakel nun wieder Erinnerungen aus lang vergangenen Zeiten aufrührt. „London Bridge is falling down“, London Bridge stürzt ein, ist ja ein Lied, das hier zum nationalen Erbe gehört, das in England jedes Kind aus dem Kindergarten kennt. Das Lied soll sich herleiten aus den Tagen, in denen London Bridge noch die einzige Straßen-Verbindung über die Themse bildete, mehrfach aber Feuer fing und immer wieder auch aus Altersgründen zu bröckeln begann. Jetzt scheine eine alte Angst der Londoner wirklich Realität zu werden, warnte jüngst die „New York Times“ beim Blick über den Atlantik: „London´s Bridges really are falling down.“
Auch anderorts bröckeln die Brücken
Doch nicht nur in London sorgen sich die Briten um ihre Brücken. Vielerorts im Land herrscht neuerdings offenbar Einsturzgefahr. Einer Untersuchung des Automobilklubs RAC zufolge kollabierten im Vorjahr zehn Brücken in Großbritannien. Dreissig brachen zumindest teilweise ein. Über 3000 Brücken entsprachen zum Jahresende „nicht den Bauvorschriften“. Bestenfalls 400 von ihnen können aber in den nächsten fünf Jahren mit Instandsetzung rechnen – weil es auch hier den für sie zuständigen Gemeinden an Ressourcen fehlt.
unserem Korrespondenten Peter Nonnenmacher aus London