Sechs Monate, bevor die um ein Jahr verschobenen Olympischen Spiele von Tokio nun starten sollen, herrschen in Japan Ungewissheit und Unglaube. Immer wieder sind vehement verteidigte Äußerungen klammheimlich relativiert worden. Längst pokern Organisatoren um ihre Glaubwürdigkeit.
Ob man die Spiele nicht lieber ein zweites Mal verschieben sollte? Schließlich befindet sich Japan seit Wochen in seiner dritten Infektionswelle der Pandemie, derzeit ist über Tokio und andere Metropolen ein Lockdown verhängt. Anfang des Jahres wurde hier auch noch eine neue Coronavirusmutation entdeckt. Und diverse olympische Qualifikationsturniere konnten bisher nicht ausgetragen werden. Aber Yoshiro Mori, Chef des Tokioter Organisationskomitees, sagte Mitte Januar vermeintlich ganz klar: „Eine weitere Verschiebung ist absolut unmöglich.“
Druck aus dem eigenen Land
Schließlich seien für die bisherige Verschiebung um ein Jahr viele Experten aus anderen Organisationen abgezogen worden, die beizeiten wieder zu ihren Verbänden und Ministerien zurückmüssten. Und dann sind da die Kosten. Ein zweites Mal alle Spielstätten und Messezentren sichern? Die Immobilienkäufer, die nach den Spielen in die aus dem Olympischen Dorf entstehenden Wohnungen ziehen wollen, erneut vertrösten? Die Sponsoren, die einen Großteil des Budgets aufbringen, weiter hinhalten? All das gehe nicht. Deshalb beteuern die Organisatoren auch ein halbes Jahr vor dem nun geplanten Start am 23. Juli: Die Olympischen Spiele von Tokio werden diesen Sommer stattfinden.
Eine derart deutliche Ansage sollte allen Beteiligten – Sportlern, Zuschauern, Sponsoren – Planungssicherheit geben, sofern sie hinreichend glaubwürdig wäre. Nur zweifelt mittlerweile die ganze Welt daran, dass es das internationalste Sportfest der Welt inmitten einer Pandemie wirklich wird geben können. Laut einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo wollen 80 Prozent der Menschen in Japan kein Olympia in diesem Jahr. Es sind vor allem die Pandemie und die weiter gestiegenen Kosten, die „Tokyo 2020+1“ so unbeliebt machen.
Umfragen sind fatal
Die Organisatoren wollen davon nichts wissen. Auf Anfrage interpretieren sie die große Skepsis folgendermaßen: „Die Situation rund um Covid-19 verändert sich jeden Moment. (…) Wir erwarten, dass die Maßnahmen der Regierung die Situation verbessern werden.“ Das Problem nur: auch die Maßnahmen der Regierung sind höchst unpopulär. Eine Umfrage der Tageszeitung Mainichi Shimbun ergab letzte Woche, dass 71 Prozent die Politik der Regierung für unentschlossen und verspätet hält.
Der Anfang Januar verhängte, teilweise Lockdown hätte früher und strikter ausgerufen werden müssen, so die überwiegende Meinung. Doch Premierminister Yoshihide Suga subventionierte noch bis Ende Dezember gezielt den Inlandstourismus, um auch in der Pandemie Gastronomie und Hotellerie zu unterstützen – was schließlich zu steigenden Infektionszahlen und fallenden Zustimmungswerten für den Premier geführt hat. Wäre nicht gerade eine Pandemie, so schätzen viele Beobachter, stünde Suga kurz unmittelbar vorm Aus.
So befindet sich Japan dieser Tage in einer Situation, die an allen Ecken und Enden an jene von vor einem Jahr erinnert. Auch damals zögerte die Regierung mit deutlichen Maßnahmen gegen das Coronavirus. „Der Wunsch, die Olympischen Spiele nicht zu gefährden, hat eine schnelle und entschlossene Reaktion in der Krisenpolitik verhindert“, sagt Koichi Nakano, Politikprofessor an der renommierten Sophia Universität in Tokio. „Das Gleiche zeigt sich jetzt wieder. Die Organisatoren wollen die Spiele nicht absagen, für sie wäre es ein Gesichtsverlust.“
Gesichtsverlust
Je nach dem, wie genau man hinsieht, ist das Gesicht schon verloren. Immer wieder haben die Organisatoren und die Regierung etwas mit aller Entschlossenheit verkündet, was sie später klammheimlich relativieren oder zurücknehmen mussten. Es ist ein Bild, das von vorigen Olympischen Spielen – so etwa in Rio oder Pyeongyang – bekannt ist. Im Falle Tokios stechen diese Beispiele ins Auge: Die Olympiaverschiebung selbst wurde zunächst ausgeschlossen, dann Ende März 2020 aber doch verkündet, nachdem Nationale Komitees anderer Länder in der Pandemie keine Athleten entsenden wollten. Mit der Verschiebung verstummten dann auch die wiederholten Beteuerungen, dass „Tokyo 2020“ die Steuerzahler kein Geld kosten würde.
Vor kurzem erklärte Premierminister Suga zudem eine Impfkampagne als „zentral“ für die Durchführung sicherer Spiele. Nur zeigte sich, dass nicht nur die japanische Bevölkerung, sondern wohl auch einige Athleten keine Impfung wollen. Die Langstreckenläuferin Hitomi Niiya sagte zuletzt, sie wolle als Sportlerin ihren Körper vor neuen Substanzen schützen. Anfang der Woche verkündete das Tokioter Organisationskomitee, eine Impfung sei keine Pflicht bei Olympia, auch wenn die Sicherheit der Spiele die „oberste Priorität“ genieße.
Neuer olympischer Zweikampf
Die wiederholte Abfolge von großen Statements und kleinlauten Relativierungen haben dazu geführt, dass mittlerweile kaum noch jemand in Japan sonderlich viel auf die Versprechen der Organisatoren setzt. „Die meisten Menschen glauben nicht mehr dran“, beurteilt Koichi Nakano, was sich mit diversen Umfrageergebnissen deckt. Dabei ist es weiterhin möglich, dass Olympia tatsächlich diesen Sommer stattfindet, selbst wenn noch immer mehrere Qualifikationsevents ausstehen und die Pandemie auch im Sommer noch nicht besiegt sein wird.
Sofern eine weitere Verschiebung tatsächlich ausgeschlossen ist, könnten Spiele ohne Zuschauer dabei helfen, neue Infektionscluster zu unterbinden. Dabei hat Japans Regierung diese Variante bisher ausgeschlossen: „Wir haben gesagt, dass die Olympischen und Paralympischen Spiele in ihrer kompletten Form abgehalten werden müssen, dass Athleten und Zuschauer auf sichere Weise teilnehmen können“, betonte der damals regierende Premierminister Shinzo Abe im April 2020.
Abe könnte einen Weg geebnet haben
Ende August trat der auch wegen seines allzu langen Festhaltens an Olympiaplänen unbeliebt gewordene Abe von seinem Posten zurück. Und er könnte sich damit noch als eine Art Samurai herausstellen, der mit seinem eigenen Fall das Sportereignis gerettet haben wird. Denn mit Abes Rücktritt wurde das Beteuern, dass in Tokios Stadien unbedingt Zuschauer jubeln müssen, allmählich leiser.
Im November antworteten die Organisatoren auf eine Anfrage folgendermaßen: „Tokyo 2020 erwägt nicht, die Spiele ohne Zuschauer abzuhalten.“ Mitte Januar reagierte man auf die gleiche Frage vorsichtiger: „Wir möchten die Spiele nicht ohne Zuschauer veranstalten.“ Unterdessen hat Cheforganisator Yoshiro Mori verkündet: In den nächsten Wochen stehen „sehr schwierige Entscheidungen“ an. Einen Bericht der britischen „Times“, dass die Spiele abgesagt werden, dementierten IOC und Japans Regierung heute aber umgehend und scharf.
Felix Lill aus Tokio