Der schwedische Weg durch die Pandemie erscheint sehr anders. Als etwa im Frühling die Wiener Innenstadt im Lockdown leergeräumt war, machten Bilder des belebten Stockholmer Stadtbilds die Runde. Es folgten dann aber auch Berichte über vergleichsweise hohe Todeszahlen. Dass es "viel schlimmer" war als andernorts sei jedoch "nicht wahr", sagte Schwedens Chefepidemiologe Anders Tegnell. Das Setzen auf viel Freiwilligkeit bei Maßnahmen "kann effektiv sein".
Es stimme, dass in Schweden die Todesrate im Frühjahr hoch war. Das galt vor allem für Alten- und Pflegeheime in denen zumindest 50 Prozent aller Covid-19-Toten zu beklagen waren. In Schweden gilt jeder Verstorbene, der im Zeitraum von 30 Tagen davor einen positiven Covid-19-Tests ablieferte, als Covid-Toter. Das sei nicht in allen Ländern so, die Todesraten daher international schwer zu vergleichen, so Tegnell in einem von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) organisierten Online-Vortrag am Donnerstagnachmittag.
In Schweden, mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern, wurden bisher über 500.000 Corona-Fälle sowie mehr als 10.000 damit in Verbindung stehende Todesfälle registriert. In Österreich liegen diese Werte bei etwas unter 400.000 dokumentierten Fällen, zudem sind seit dem Pandemie-Ausbruch etwas unter 7.000 Menschen entweder direkt an den Folgen einer Covid-Erkrankung oder nach einer Covid-Infektion gestorben. Franz Allerberger, Leiter der Abteilung für "Öffentliche Gesundheit" der AGES, verwies vor Tegnells Vortrag darauf, dass Schweden bei der Übersterblichkeit zuletzt deutlich besser dastehe als Österreich. Das sei "sehr bemerkenswert", weil man es dort offenbar schaffe, die Situation gut zu managen.
Das Gesicht dieses international viel beachteten Managements ist der Leiter der Public Health Agency Sweden, Tegnell. Tatsächlich werde dem stark historisch gewachsenen, äußerst dezentralen Gesundheitssystem im Land viel Vertrauen entgegengebracht. Die zuständigen Agenturen könnten erstaunlich viele Entscheidungen ohne Zutun der Regierung, sehr unabhängig treffen. Die offene Strategie im Umgang mit der Erkrankung sei trotzdem nicht so sehr anders als in anderen Ländern gewesen, betonte der Experte.
Art "virtueller Lockdown"
Tatsächlich habe man eine Art "virtuellen Lockdown" mit mehr freiwilligen Elementen, aber auch bindenden Elementen, etwa bei der drastischen Einschränkung von Veranstaltungen oder etwa der Ausdünnung in der Gastronomie installiert. "Wir haben sehr stark mit der Bevölkerung kommuniziert", sagte Tegnell, der das vielfach selbst bzw. mit einem Expertengremium tat. Es gab rasch finanzielle Entschädigung fürs Zuhausebleiben von der Arbeit und bis zum Alter von 15 Jahren habe man die Schulen sehr bewusst offen gehalten. Trotzdem wurde unter Lehrern eine niedrigere Infektionsrate als in anderen Berufsgruppen und wenige Ansteckungen durch Schüler verzeichnet.
Alles in allem könne man im Fall von Schweden sagen: "Freiwillige Maßnahmen können sehr effektiv sein", so der Chefepidemiologe. Viele Befragungen der Bevölkerung hätten auf ein "hohes Vertrauenslevel" hingewiesen. Mobilitätsdaten würden zeigen, dass die Schweden im Frühling und Ende 2020 auch deutlich weniger herumreisten. Praktisch kaum Fälle von Keuchhusten (Pertussis) in der kalten Jahreszeit würden zeigen, dass "die Leute wirklich Abstand halten".
Insgesamt verlaufe die Covid-19-Herbstpandemie in Schweden im internationalen Vergleich bisher in einer flacheren Kurve. Die Testkapazitäten lägen bei rund 300.000 pro Woche, mehr oder weniger jeder mit Covid-19-Verdacht könne rasch getestet werden. Es gebe Tendenzen, dass man vielleicht bald über den Berg sein könnte, wenn vor allem die ältere Bevölkerung "hoffentlich in den nächsten Wochen durchgeimpft ist". Spätestens dann sollten auch die Todeszahlen noch deutlich sinken, hofft Tegnell.
Das war im Frühjahr nicht so. Zwar habe man den ersten Eintrag des SARS-CoV-2-Virus vor allem durch Skiurlaub-Rückkehrer aus Österreich und Italien noch gut abfedern können. Zu verhindern, dass das Virus in die Betreuungseinrichtungen für ältere Menschen gelangt, sei leider nicht gelungen. Hier hätten sich dann auch langjährige strukturelle Probleme in dem Sektor ausgewirkt. Die vergleichsweise schlechten Zustände vielerorts und damals noch mangelnde Testkapazitäten "waren womöglich schuld an sehr hohen Todeszahlen dort", räumte der Experte ein. Seither habe sich aber viel verbessert, was sich auch in weniger Todesfällen ablesen lasse.
Der momentane Fokus liege auch darauf, wissenschaftlich herauszufinden, welche Kollateralschäden die Pandemie bisher in der schwedischen Bevölkerung mit sich gebracht hat. Es gebe "viele Konsequenzen", sagte Tegnell. So hätten Gesundheitsunterschiede eher zugenommen, beunruhigend seinen auch die negativen Effekte auf die psychische Gesundheit. Nicht zuletzt müsse man jetzt auch vermehrt analysieren, wo und in welchem Umfang die neue britische Virusvariante im Land kursiert.