„Während in ganz Europa gefordert wird, dass sich das Desaster von Lesbos nicht wiederholen darf, entsteht vor unseren Augen ein neues Moria“, sagt Laura Leyser, die Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich. „Das Lager Kara Tepe, in das mehr als 9.000 Menschen gedrängt wurden, ist ungeeignet als dauerhafte Lösung. Schutzsuchende können dort nicht angemessen versorgt werden. Es liegt nicht nur direkt am Meer – und ist somit extremen Wetterbedingungen ausgesetzt: Unsere Teams vor Ort berichten auch, dass es keinen ausreichenden Zugang zu Wasser, Sanitäreinrichtungen, Nahrung und medizinischer Hilfe gibt. Mehrere Familien müssen sich ein Zelt teilen, in Großzelten müssen bis zu 200 Männer leben.
Es gibt bereits unzählige COVID-19-Infektionen; unter diesen Umständen ist es inakzeptabel dort tausende Menschen auf engstem Raum unterzubringen – damit wird das Lager defacto zu einer Corona-Brutstätte.“ Es sei zwar wichtig, auf Lesbos nach dem Brand eine akute Lösung für die Unterbringung der Menschen zu haben, fügt Leyser hinzu. Doch sobald der Herbstregen einsetzt, werde auch das neue Lager im Schlamm versinken, und mit ihm die Menschen, die dort in Zelten auf nacktem Boden leben müssen. Es gäbe nur einen Weg, die humanitäre Notlage zu entschärfen: „Die Evakuierung der Betroffenen, zuallererst der Familien mit Kindern, der Kranken und der Alten.“
Die Situation ist nicht nur auf Lesbos katastrophal, auch in den Lagern auf anderen griechischen Inseln Samos, Chios, Leros und Kos besteht dringender Handlungsbedarf. In den dortigen überfüllten Lagern leben Kinder, Alte und Kranke ebenfalls unter katastrophalen und würdelosen Bedingungen. Es gibt hunderte dokumentierte Fälle von Personen, die aus medizinischen Gründen eigentlich rasch evakuiert werden müssten.
Rotes Kreuz: Unbürokratische Hilfe für Familien ermöglichen
Dazu könne und solle Österreich einen Beitrag leisten, fordert auch der Rotkreuz-Präsident Gerald Schöpfer: „Über den Suchdienst des Roten Kreuzes werden wir vermehrt von Menschen kontaktiert, deren Verwandte auf den griechischen Inseln ausharren. In vielen Fällen haben die österreichischen Behörden eine Familienzusammenführung abgelehnt. Dabei wäre es rechtlich ohne Weiteres möglich, diese Menschen aufzunehmen. So kann das Leid von Menschen gemindert werden, Familien können vereint werden und es kann ganz unbürokratisch geholfen werden. Die Anzahl der davon betroffenen Menschen ist überschaubar – für die Familien wäre es eine riesige Erleichterung und innereuropäisch wäre es – gemeinsam mit weiteren Aufnahmen – ein solidarischer Beitrag zur Entlastung des griechischen Asylsystems und zur Entspannung der Situation in den Aufnahmelagern.“
Caritas: Auch Österreich muss sich engagieren
Die Caritas weist darauf hin, dass die Hilfe vor Ort – also ein Dach über dem Kopf, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung – zwar ein wichtiger erster Schritt sind, doch reicht das alleine nicht um zu verhindern, dass tausende Menschen noch weitere Jahre in menschenunwürdigen Bedingungen ausharren müssen bis sie ein Asylverfahren durchlaufen können. In diesem Sinne bedauert die Caritas, dass der neue EU Pakt zu Asyl und Migration den Fokus auf Rückkehr, Grenzkontrollen und Migrationsprävention legt und nicht darauf, jenen den raschen und sicheren Zugang zu Schutz zu gewähren, die diesen am dringendsten brauchen.
Für Situationen wie derzeit in Griechenland sehe der Pakt vor, dass Mitgliedsstaaten künftig aus verschiedenen ‚solidarischen Maßnahmen‘ wählen dürfen. EU-Staaten hätten dadurch die Möglichkeit zu wählen, Schutzsuchende entweder aufzunehmen oder aber bei deren Rückführung in die Herkunftsländer zu unterstützen. Für die Caritas ist es unverständlich, dass die Hilfe bei Rückführungen mit der Aufnahme Schutzsuchender gleichgesetzt wird. „Eine Situation wie sie derzeit auf den griechischen Inseln herrscht ist ein humanitärer Notstand auf europäischem Boden. Alle EU-Staaten sind jetzt gefordert Griechenland zu unterstützen und Schutzsuchende aufzunehmen. Auch Österreich sollte sich im Verbund mit anderen EU-Staaten hier engagieren. Eine Vielzahl von Orten in Österreich hat sich bereiterklärt, Kinder und Familien aus Moria aufzunehmen. Hier ließe sich an die gelungenen humanitären Erfahrungen der Vergangenheit anknüpfen“, sagt Caritas Präsident Michael Landau. „Klar ist: Menschen müssen als Menschen behandelt werden – und zwar immer “, so Landau abschließend.
Diakonie: Unhaltbaren Zustand sofort beenden und nicht weiter ausbauen!
Auch die Diakonie spricht sich für ein stärkeres Engagement Österreichs aus: „Die Situation, die nicht erst seit dem Brand von Moria in allen Hotspots auf den griechischen Inseln herrscht, ist unerträglich und spricht von absichtlichem im Stich lassen der geflüchteten Menschen in den Lagern. ‚Hilfe vor Ort‘, die im Bauen von neuen Lagern besteht, heißt nur: Ausbau und Verlängerung eines bereits seit langem unhaltbaren Zustands. Österreich sollte dazu keinen Beitrag leisten“, betont Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich. „Außerdem entspricht die Unterbringung von Schutzsuchenden in einem Lager wie Kara Tepe nicht im Mindesten den Vorschriften, wie sie die EU selbst fordert,“ kritisiert die Diakonie-Direktorin. „Die einzige Lösung kann nur sein, die Menschen jetzt zu evakuieren, und menschenwürdig in Flüchtlingsquartieren in europäischen Ländern unterzubringen“.
Appell an Regierung
Gemeinsam fordern Ärzte ohne Grenzen, das Österreichische Rote Kreuz, Caritas und Diakonie daher die Regierung zum Handeln auf: „Zeigen Sie Herz! Österreich muss Teil der Lösung werden und gemeinsam mit anderen Ländern besonders Schutzbedürftige aufnehmen. Wir haben sowohl die Kapazitäten, die Ressourcen als auch die Kompetenzen, die nötig sind, um Kinder, Alte und Kranke aufzunehmen. Griechenland hat sie ganz eindeutig nicht. Deshalb muss Österreich jetzt aktiv werden und ein Zeichen der Solidarität setzen.“