Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria ist die griechische Polizei am Samstag mit Tränengas gegen protestierende Menschen auf der Insel Lesbos vorgegangen. Wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete, hatten sie zuvor Steine auf Polizisten geworfen. Hunderte ehemalige Lagerbewohner, die seit vier Tagen im Freien ausharren, protestierten gegen ihre verzweifelte Lage.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sieht die Lage auf Lesbos nach den Bränden im griechischen Flüchtlingslager Moria als sehr dramatisch. "In diesem Augenblick, während Österreich über die Worte des Kanzlers zur Moria-Katastrophe diskutiert, eskaliert die Situation auf Lesbos komplett", sagte der humanitäre Berater Marcus Bachmann am Samstag in einer Aussendung.
"Unsere Teams vor Ort berichten von Familien mit Kleinkindern, die in brütender Hitze auf dem nackten Asphalt ausharren, ohne Zelte, Decken, Nahrung oder Wasser und medizinische Hilfe. Tausende verzweifelte Menschen, mitten in Europa, ohne Hilfe und ohne jede Aussicht darauf", erklärte Bachmann. Die medizinischen Teams der Ärzte ohne Grenzen würden zwar Erste Hilfe leisten. "Aber es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Menschen müssen evakuiert werden, zuallererst unbegleitete Minderjährige, Familien mit Kindern und besonders schutzbedürftige Personen. Auch Österreich ist hier gefragt, denn Griechenland ist ganz offensichtlich überfordert."
Auf Lesbos und anderen griechischen Inseln gebe es hunderte Patienten, die dringend medizinische Hilfe brauchen und nicht vor Ort versorgt werden könnten. Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche würden aufgrund der Situation in den Lagern körperlich und psychisch krank werden, betonte Bachmann: "Bereits junge Kinder werden wegen ihrer aussichtslosen Lage depressiv, verletzen sich selbst, hegen Selbstmordgedanken. Schwer traumatisierte Kriegsflüchtlinge werden in den Lagern re-traumatisiert. Die Lebensbedingungen sind katastrophal, Wasser und Sanitäreinrichtungen erfüllen nicht einmal die Mindeststandards."
Angesichts dessen, dass die Bundesregierung zwar die Aufnahme von Migranten aus dem Lager ablehnt, aber Hilfe vor Ort leisten will, sagte Bachmann: "Hilfe vor Ort ist gut und wichtig. Doch sie wurde schon so oft angekündigt - vor Ort haben unsere Teams bisher nicht viel davon gesehen. Stattdessen wurde die Lage schlimmer und schlimmer, bis das Pulverfass explodiert ist." Nun dürfe nicht zugelassen werden, dass aus der Asche Morias "dasselbe unmenschliche System des Wegsperrens von Schutzsuchenden wiedergeboren wird", plädierte er gegen die Wiedererrichtung eines Flüchtlingslagers wie Moria auf Lesbos.
Errichtung eines provisorischen Lagers
Die Errichtung eines provisorischen Lagers auf der Insel Lesbos ist in der Nacht auf Samstag fortgesetzt worden. "Alle Menschen müssen dorthin gehen. Nur so werden wir sie richtig versorgen können", erklärte der stellvertretende griechische Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos im Athener Nachrichtensender Skai.
Dem schloss sich der Chef der Niederlassung der Hilfsorganisation Ärzte der Welt, Dimitris Patestos, an: "Das provisorische Lager muss so schnell wie möglich funktionieren", sagte er der Deutschen Presse-Agentur.
"Wir wollen nach Deutschland - nicht ins Lager"
Zahlreiche Migranten sagten Reportern vor Ort, sie wollten nicht ins provisorische Lager und sähen die Lage als Chance, ihre Abreise durchzusetzen. "Wir wollen Freiheit. Wir wollen nach Deutschland - nicht ins Lager", sagen viele. Immer wieder kommen spontan kleine Demonstrationen zustande bei denen Migranten "Freiheit, Freiheit", skandieren. Tausende Migranten, darunter Kinder, verbrachten die vierte Nacht in Folge auf den Straßen. Humanitäre und staatliche Organisationen versuchen Wasser und Lebensmittel zu verteilen, wie das griechische Fernsehen (ERT) zeigte.
Das Lager wird auf einem Schießübungsfeld der griechischen Armee errichtet. Das Gelände liegt nur wenige Kilometer nördlich der Inselhauptstadt Mytilini an der Küste.
Nach wie vor bewegen sich Dutzende Corona-infizierte unter den Tausenden Migranten. Mindestens 35 Migranten waren vor dem Großbrand positiv getestet worden. Sie tauchten nach dem Großbrand unter.