Der Direktor der Anti-Korruptions-Stiftung FBK von Kreml-Kritiker Alexej Nawalny hat den russischen Staat für die Vergiftung des Oppositionellen durch einen chemischem Nervenkampfstoff verantwortlich gemacht. "Nur der Staat kann Nowitschok einsetzen", schrieb Iwan Schadnow am Mittwoch auf Twitter. Das stünde "ohne jeden Zweifel" fest.

Die deutsche Regierung hatte zuvor erklärt, dass in Nawalnys Körper eine Substanz der sogenannten Nowitschok-Gruppe nachgewiesen wurde. Schadnow zufolge könnten der russische Geheimdienst FSB und der Militärgeheimdienst GRU eine solche Tat ausführen. In einem Radiointerview sagte er, dass der Einsatz eines "chemischen Kampfstoffs" deutlich mache, dass der Angriff vom Staat organisiert wurde. "Deshalb fordern wir natürlich die Einleitung eines Strafverfahrens und eine normale Untersuchung aller Umstände der Vergiftung."

Der russische Wissenschafter Leonid Rink, der laut staatlichen Medien an einem von der Regierung unterstützten Programm zur Entwicklung von Nowitschok gearbeitet haben soll, wies dagegen die Möglichkeit eines Nowitschok-Einsatzes bei Nawalny zurück. Wäre die Substanz bei dem Oppositionellen eingesetzt worden, wäre dieser tot und nicht im Koma, sagte Rink der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti.

Merkel: Nawalny sollte zum Schweigen gebracht werden

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich bestürzt über die Untersuchungsergebnisse im Fall des russischen Regierungskritikers Alexej Nawalny gezeigt. Es sei sicher, dass dieser "Opfer eines Verbrechens" geworden sei, sagt Merkel am Mittwoch in Berlin. "Er sollte zum Schweigen gebracht werden."

Bei ihm sei eindeutig ein chemischer Nervenkampfstoff nachgewiesen worden, sagte die deutsche Kanzlerin. "Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt", sagte Merkel. "Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss."

Das Untersuchungsergebnis könnte die ohnehin schon schwer angeschlagenen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sowie anderen westlichen Staaten noch einmal massiv erschüttern. Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Die beiden überlebten nur knapp.

Russische Diplomaten aus westlichen Staaten ausgewiesen

Als Reaktion hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die deutsche Regierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an. Das machten der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, und Verteidigungs- Staatssekretär Gerd Hoofe in einer gemeinsamen Unterrichtung von Bundestagsabgeordneten nach Teilnehmerangaben deutlich.

Das deutsche Auswärtige Amt will den Botschafter Russlands über die Untersuchungsergebnisse unterrichten. "Ferner wird die Bundesregierung mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) Kontakt aufnehmen", erklärte Seibert.

In einer ersten Reaktion sagte ein Sprecher des russischen Präsidialamtes, die Regierung in Moskau sei über die Erkenntnisse in Deutschland nicht informiert worden. Nawalny wird seit dem 22. August in der Berliner Charite behandelt. Der Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin war am 20. August auf einem Inlandsflug in zusammengebrochen. Zunächst wurde er im sibirischen Omsk behandelt, bevor er nach Deutschland geflogen wurde. Russische Ärzte hatten erklärt, dass sie keine Hinweise auf eine Vergiftung gefunden hätten. Die Charite teilte wenige Tage nach Nawalnys Eintreffen dagegen mit, dass sie Spuren von Gift in dessen Körper festgestellt habe.

Am vergangenen Freitag erklärte die Charite, dass sich die Vergiftungssymptome bei Nawalny zurückbildeten. Sein Zustand sei stabil, er befinde sich weiter auf einer Intensivstation im künstlichen Koma und werde maschinell beatmet. Akute Lebensgefahr bestehe nicht, Langzeitfolgen der "schweren Vergiftung des Patienten" seien aber nicht absehbar.

Russland sah keinen Anlass für Ermittlungen

Russische Sicherheitsbehörden haben dennoch bisher erklärt, sie sähen keinen Anlass für Ermittlungen. Anzeichen für eine Straftat gebe es nicht. Allerdings kontaktierte der Moskauer Generalstaatsanwalt am 27. August das Bundesamt für Justiz, um Informationen in dem Fall einzuholen, wie ein Sprecher des deutschen Justizministeriums in Berlin am Mittwoch bestätigte. Weitere Angaben wollte der Sprecher nicht machen. Einem Bericht der russischen Zeitung "RBC" zufolge wollten die russischen Behörden Auskunft über die Behandlung Nawalnys, Ergebnisse von Blut- und Urintests sowie Erkenntnisse über Stoffe, die dabei gefunden worden seien.

Merkel beriet sich mit Scholz und Maas

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich mit Finanzminister Olaf Scholz, Außenminister Heiko Maas, Innenminister Horst Seehofer, Justizministerin Christine Lambrecht, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sowie dem Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun, zu Mittag beraten und weitere Schritte abgestimmt, erklärte Seibert weiter. Auch die Fraktionen des Bundestages würden nun unterrichtet. Merkel wollte sich am späteren Nachmittag (17.30 Uhr) in Berlin in einer Pressekonferenz äußern. "Wir hoffen auf eine vollständige Genesung von Alexej Nawalny", erklärte Seibert.