Plötzlich brach der Gouverneur von Beirut in Tränen aus. "Das ist zu viel für unser Volk", schluchzte er und wischte sich mit dem Taschentuch durch die Augen. Noch nie in seinem Leben habe er seine solche Zerstörung gesehen. "Das ist eine nationale Katastrophe, wie sollen wir da jemals wieder rauskommen", sagte Marwan Abboud bei seinem Rundgang durch den völlig verwüsteten Hafen. Von dem gigantischen Silo, in dem nahezu die gesamten Getreidevorräte des Libanon lagerten, steht nur noch ein aufgerissenes Wrack.
Zentrale Teile Beiruts sehen nach den sekundenkurzen Mega-Explosionen aus wie nach einem jahrelangen Bürgerkrieg. 113 Tote wurden bisher gezählt, viele Opfer liegen noch unter den Trümmern begraben.Mindestens 4000 Menschen sind verletzt, darunter auch Deutsche, Niederländer und Franzosen. Vier Krankenhäuser wurden zerstört, zwei weitere beschädigt, hunderte Patienten mussten evakuiert werden.
Die übrigen Kliniken sind heillos überfordert vom Andrang der Schwerverletzten, von denen manche zunächst unter freiem Himmel auf Parkplätzen versorgt werden mussten. "Wir haben drei Krankenschwestern verloren, mir fehlen die Worte, das zu beschreiben. Es ist wie in einem Horrorfilm", sagte die Präsidentin des Verbandes der Pflegekräfte, Mirna Doumit. Auf Instagram fahnden Familien verzweifelt nach Vermissten. "Meine Schwester ist weg, Wir können sie nicht finden. Arbeiter sagten uns, sie sei schwer verletzt", postete eine Frau.
Beirut und der Libanon werden Jahrzehnte brauchen, um sich von dieser Katastrophe zu erholen, wenn überhaupt. In vielen Straßenzügen das gleiche Bild. "Ich habe den Bürgerkrieg durchgemacht, die israelische Invasion 1982 und den libanesisch-israelischen Krieg 2006, aber eine solche Explosion habe ich noch nie gesehen", berichtete ein Augenzeuge gegenüber CNN. Balkone sind abgerissen, Klimaanlagen baumeln herab, verbeulte Autos überall, der Asphalt bedeckt mit Glassplittern. Mindestens 250.000 der 2,4 Millionen Einwohner verloren laut Behörden ihre Bleibe.
Fotos auf Twitter von zerstörten Möbeln, herabgefallenen Decken und zerborstenen Fensterscheiben gehen in die Tausende. "Ich laufe die ganze Zeit im Kreis herum durch meine Wohnung und weiß nicht, wo ich anfangen soll", zitierte die Zeitung "l’Orient - le Jour" eine Frau aus dem Stadtteil Achrafiyé, Ihre Nachbarin will kaputte Scheiben zunächst durch Karton ersetzen. Vorrang hat die zerborstene Haustür, weil geplündert wird.
Staatspräsident Michel Aoun rief einen zweiwöchigen Notstand aus in einem Land, das bereits seit Monaten in einer tiefen Staatskrise steckt und dessen korrupte politische Eliten sämtliche Reformen boykottieren. Mindestens 80 Milliarden Dollar sind im maroden Bankensystem versickert, wahrscheinlich sehr viel mehr. Die heimische Währung befindet sich im freien Fall, allein in den letzten drei Monaten stiegen die Lebensmittelpreise um 150 Prozent.
Die Hälfte der sechs Millionen Libanesen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vor allem Ältere mit wertlos gewordenen Pensionen, die in dem Müll auf den Straßen nach Essbarem suchen, wurden ein gewohnter Anblick. Seit Wochen haben weite Teile des Landes nur noch vier Stunden Strom am Tag, was die Suche nach Menschen im nächtlichen Beirut extrem erschwerte.
Zu der genauen Ursache der Apokalypse gab es auch am Tag danach kein klares Bild. Ministerpräsident Hassan Diab erklärte im Fernsehen, 2750 Tonnen Ammoniumnitrat seien in die Luft geflohen, die seit sechs Jahren in einer Halle des Hafens unsachgemäß gelagert worden seien. Die hochexplosiven Chemikalien, die zur Herstellung von Dünger verwendet werden, sollen von einem Schiff stammen, welches 2013 von Georgien nach Mosambik unterwegs war und in Beirut strandete.
Ungeklärt ist jedoch, was der kolossalen Detonation vorausging. Das Handyvideo eines Augenzeugen im Hafenareal zeigte zunächst ein Feuer und eine erste Explosion, der dann wenige Sekunden später die Mega-Druckwelle folgte. Was diesen Brand auslöste, dazu schwiegen die libanesischen Ermittler. Lokale Medien berichteten, Schweißarbeiten seien der Grund gewesen. Auf Twitter kursierte ein Foto von drei Männern, die an dem Eisentor der Lagerhalle mit den Ammoniumnitrat-Säcken arbeiten. Militärexperten wie der frühere CIA-Mitarbeiter Robert Baer dagegen wiesen darauf hin, die intensiv-orange Farbe der Explosionswolke könnte auf militärischen Sprengstoff hindeuten und in weiterer Folge auf eine vorsätzlich gesetzte Tat.
Gestern liefen weltweite Hilfsflüge an. Frankreich als Ex-Kolonialmacht schickte Bergungsspezialisten und Medikamente. Aus Russland trafen Transportmaschinen mit Ärzten und einem Feldkrankenhaus ein. Qatar, Kuwait und Vereinigte Arabische Emirate brachten mobile Kliniken auf den Weg.
Aber auch die alltägliche Versorgung der Bevölkerung steht nach dem Unglück auf der Kippe. Nasser Yassin, Professor an der Amerikanischen Universität von Beirut, forderte das Ausland auf, mit der Lieferung von Lebensmitteln einzuspringen.
Auf die libanesische Regierung könne das Volk schon lange nicht mehr zählen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diesem Desaster noch beikommen kann mit den herkömmlichen Methoden der Libanesen – sich auf sich selbst verlassen und auf die Unterstützung seiner direkten Umgebung."
Martin Gehlen