Hochhäuser schwankten, Balkone krachten zu Boden, Fenster rissen aus ihren Verankerungen. Auf der Stadtautobahn entlang der Corniche von Beirut türmten sich zerbeulte Autos mit aufgerissenen Türen und aufgeblasenen Airbags. Weite Teile des Hafens und seiner Umgebung waren übersäht mit Ziegeln, Betonteilen und zerborstenen Containern. Zwei gigantische Explosionen erschütterten am Dienstagnachmittag die libanesische Hauptstadt, die bis in das 240 Kilometer entfernte Zypern zu hören waren. Handyvideos zeigten eine riesige Staub- und Feuerwalze, die sich über die umliegenden Wohnviertel wälzte.
„Es war wie eine Atombombe“, sagte einer der Augenzeugen, ein 43-jähriger Lehrer. Nach ersten Berichten kamen durch die Apokalypse mindestens 73 Menschen ums Leben, weitere Leichen werden unter den Trümmern vermutet. Der libanesische Gesundheitsminister Hamad Hassan sprach von „hunderten Verletzten“, mittlerweile weisen Meldungen darauf hin, dass es 3700 Verletzte sein könnten.
Mittwoch früh hat das libanesische Rote Kreuz die Zahl der Toten auf mindestens 100 beziffert. Mehr als 4.000 weitere Menschen seien verletzt worden, teilte die Organisation mit. "Unsere Teams setzen die Such- und Rettungsaktivitäten in den umliegenden Gegenden fort." Das Gesundheitsministerium hatte die Zahl der Todesopfer zuletzt mit 78 angegeben und von knapp 4.000 Verletzten gesprochen.
Blutüberströmte Passanten irrten unter Schock durch die Straßen. Zahlreiche Besatzungsmitglieder von im Hafen liegenden Schiffen wurden durch die Druckwelle herumgeschleudert und verletzt. In dem hafennahen Einkaufsviertel Hamra blieb kaum ein Geschäft, Café oder Restaurant unbeschädigt. Gebäudeteile lösten sich, reihenweise gingen Schaufenster zu Bruch. Autos wurden von Trümmern getroffen.
Die Ursache der Mega-Detonation blieb bisher unklar. Der Chef der libanesischen Staatssicherheit, General Abbas Ibrahim, erklärte bei einer ersten Inspektion vor Ort, im Hafen sei ein Lager explodiert, in dem sich Sprengstoff befand, der vor einigen Jahren beschlagnahmt worden sei. Libanons Präsident Michael Aoun rief am Abend den Obersten Verteidigungsrat zu einer Krisensitzung in seiner Residenz zusammen, dem Baabda Palast. Ministerpräsident Hassan Diab rief für Mittwoch einen „Tag der nationalen Trauer“ aus.
Internationale Hilfe
Nach der verheerenden Explosion in Beirut schickt Tschechien ein Hilfsteam in den Libanon. Die Spezialeinheit der Feuerwehr werde am Nachmittag abfliegen, teilte Innenminister Jan Hamacek am Mittwoch bei Twitter mit. Das Team ist auf die Bergung von Verschütteten spezialisiert. Dabei sind fünf Suchhundeführer mit ihren Tieren sowie mehr als 30 weitere Einsatzkräfte.
Die Niederlande schicken ein Experten-Team in das von der Explosion schwer getroffene Beirut. Rund 70 Helfer sollten am Abend in die libanesische Hauptstadt reisen, kündigte die Handelsministerin Sigrid Kaag am Mittwoch im Radio an. Zu dem Team gehörten Ärzte, Feuerwehrleute und Polizisten, die im Aufspüren von verschütteten Personen spezialisiert seien.
"Die Niederlande sind besonders spezialisiert im Suchen nach Überlebenden und Toten in Trümmern," sagte die Ministerin. "Das ist jetzt so wichtig. Die Zeit drängt."
Über das Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen der EU werden mehr als 100 Katastrophenhelfer in die libanesische Hauptstadt Beirut geschickt. Die Experten und Such- und Rettungsfachleute kämen aus den Niederlanden, Tschechien und Griechenland, sagte ein EU-Beamter am Mittwoch. Auch von anderen Länder werde noch Unterstützung erwartet.
Das Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen der EU war bereits am Dienstagabend in Kontakt mit den libanesischen Katastrophenschutzbehörden getreten. "Die EU steht in diesen schwierigen Momenten an der Seite der Menschen in Beirut", kommentierte der für das EU Krisenmanagement zuständige Kommissar Janez Lenarcic.
Zuvor hatte die israelische Regierung ein Hilfsangebot über internationale Kanäle unterbreitet. Ein Präsident Reuven Rivlin drückte via Twitter dem Libanon sein Mitgefühl aus. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wies den Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates, Meir Ben-Schabat, an, mit dem UNO-Nahostbeauftragten Nikolaj Mladenow weitere Möglichkeiten der Unterstützung auszuloten.
Ein Krankenhaus im Norden Israels bot Hilfe bei der Versorgung von Verletzten an. Der Direktor des Galiläa-Krankenhauses in der nördlichen Stadt Naharija, Massad Brahum, sagte Mittwochfrüh im Armee-Radio Unterstützung zu. "Wir wollen nur eine helfende Hand reichen", sagte er auf Arabisch. Jeder werde behandelt. Von libanesischer Seite wurden die Hilfsangebote aus Israel jedoch zurückgewiesen. Darauf angesprochen sagten Regierungsvertreter: "Wir nehmen keine Hilfe von einem feindlichen Staat an."
Unglück in schwerer Krise
Die verheerende Katastrophe trifft den Libanon zu einem Zeitpunkt, an dem das Land in der schwersten Wirtschafts- und Staatskrise seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 steckt. Der Zedernstaat, einst gepriesen als „die Schweiz des Orients“, ist bankrott. In seinem maroden Banksystem sind mindestens 80 Milliarden Dollar versickert, wahrscheinlich sehr viel mehr. Der Wert der libanesischen Lira fällt seit Monaten ins Bodenlose, die Gehälter haben mittlerweile 80 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt. Breite Teile der Bevölkerung haben wegen der Inflation ihre Ersparnisse verloren. Die Hälfte aller Libanesen lebt an der Armutsgrenze. Immer mehr Geschäfte müssen schließen. Krankenhäuser können ihr Personal nicht mehr bezahlen, während die Zahl der Corona-Infektionen seit Anfang Juli rasant steigt. Weite Teile des Landes sind jeden Tag bis zu 20 Stunden ohne Strom. Selbst die Hauptstadt Beirut liegt abends weitgehend im Dunkeln. Stinkende Müllberge stapeln sich in den Straßen. Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) stecken in einer Sackgasse, weil sich Beiruts politische Klasse nicht auf ein Reformprogramm einigen kann.
Zudem will das „Sondertribunal für den Libanon“ (STL) in Den Haag diese Woche Freitag nach sechs Jahren Prozess das Urteil im Hariri-Prozess verkünden. Vor 15 Jahren wurde der Milliardär und langjährige Ministerpräsident Rafik Hariri in Beirut durch eine Zwei-Tonnen-Lastwagenbombe getötet, die eine ganze Häuserzeile in Schutt und Asche legte. Mit ihm starben damals 21 Menschen, 226 wurden verletzt. Angeklagt sind vier Tatverdächtige der Hisbollah. Alle sind untergetaucht, niemand ist bis heute gefasst. Und so könnten die Urteile angesichts der aufgewühlten Lage im Land die Spannungen zwischen der schiitischen Hisbollah und den sunnitischen Libanesen neu entfachen.
unserem Korrespondenten Martin Gehlen