Herr Adjan, als Gewerkschafter setzen Sie sich schon seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie ein. Welche Faktoren haben ihrer Meinung nach jetzt zu diesem großen Ausbruch des Corona-Virus bei Tönnies geführt?
Adjan: Die Menschen in der Fleischfabrik arbeiten in der Regel mit einem Abstand von einem halben Meter zueinander, sie stehen dicht an dicht, Mann an Mann und zerlegen das Fleisch. Sie arbeiten in Hallen, in denen es etwa 3 Grad sind - ein Paradies für einen Virus. Sie haben zwar Schutzkleidung an und seit Kurzem müssen sie auch Masken tragen, aber viele halten es nicht durch, diese während der gesamten Schicht aufzulassen. Bei Werkvertragsnehmern sind Arbeitszeiten von 14 bis 16 Stunden pro Tag keine Seltenheit. Das zweite Problem sind natürlich die Wohnverhältnisse. Die Beschäftigten von Subunternehmen, also die Leute, die töten und zerlegen, die wohnen teilweise zu zehnt oder zu zwanzigst in Wohnungen. In einem Zimmer vier bis sechs Menschen. Mehr als sechs Matratzen passen in diese Räume auch nicht rein, und für die müssen die Arbeiter dann bis zu 350 Euro bezahlen.
Tönnies hat ja aber erklärt, dass die Situation mit der Unterbringung während der Pandemie verbessert worden wäre.
Adjan: Ja, aber das stimmt nicht. Vor einigen Tagen hat der NRW-Ministerpräsident Laschet eine Pressekonferenz gegeben und bestätigt, dass auch bei Tönnies erschreckende Wohnverhältnisse vorgefunden wurden. Tönnies hebt da gern immer die Hände und sagt, dass sie keine Handhabe hätten, weil die Arbeiter bei Subunternehmern angestellt sind. Dieses Spiel spielen sie jetzt seit 20 Jahren, stellen sich als Unschuldslämmer dar und reden sich damit heraus, dass sie sich angeblich auch nicht einmischen dürften.
Auch als die Behörden die Adressen der Arbeiter haben wollten, behauptete Tönnies, dass sie die Angaben aus datenschutzrechtlichen Gründen gar nicht haben dürften. Auch das hat sich hinterher als Fake herausgestellt, denn die europäische Datenschutzgrundverordnung erlaubt das sehr wohl.
Sie sprechen gerade viel nur von den Werksvertragsnehmern. Können Sie einschätzen, wie viele Menschen in dem Gütersloher Werk über diese Vertragsform angestellt sind?
Adjan: Das ist unterschiedlich, aber in der Regel sind es zwischen 50 und 80 Prozent der Komplettbelegschaft.
Sind unter diesen prekär Beschäftigten auch deutsche Arbeitnehmer?
Adjan: Nein, es sind ausländische Arbeitnehmer aus Osteuropa, der Großteil aus Rumänien oder Bulgarien. Die deutsche Belegschaft ist fest angestellt und arbeitet in aller Regel nicht in der Produktion, sondern in anderen Bereichen des Betriebs und sind dadurch deutlich besser vor dem Virus geschützt. Deswegen fordern wir auch seit Jahren nicht, dass Werkverträge gänzlich abgeschafft werden, sondern wir fordern deren Abschaffung in den Kernbereichen: also der Schlachtung und der Zerlegung. Es kann doch nicht sein, dass die zentrale Aufgabe eines Betriebes von Externen übernommen wird.
Haben Sie als NGG gute Verbindungen in das Werk von Tönnies?
Adjan: Die Werke von Tönnies sind gewerkschaftlich hundsmiserabel organisiert. Clemens Tönnies ist ein Gewerkschaftshasser und Patriarch. Im Stammwerk, mit einer Belegschaft von 7000 Menschen, gibt es nicht mal einen Betriebsrat. Die Versuche, einen zu gründen, wurden immer torpediert.
Arbeitsminister Hubertus Heil hat ja jetzt ein Gesetz auf den Weg gebracht, das Werkverträge und sogenannte Arbeitnehmerüberlassung ab 2021 verbieten soll.
Adjan:Genau, diese Vorlage gibt es. Hier ist aber unsere große Sorge, dass das Gesetz auf Druck der CDU/CSU hin verwässert wird. Die Fleischlobby versucht in Berlin derzeit alles, um dieses Gesetz zu abzuschwächen, und die hat in Deutschland natürlich einen großen Einfluss. Das Gesetz wird vermutlich erst im Juli im Bundestag verhandelt werden. Da zeigt sich dann, ob sich der Rund-um-die-Uhr-Einsatz der Fleischlobby ausgezahlt hat.
Denken Sie dennoch, dass das Gesetz durchkommen wird?
Adjan: Das denke ich schon. Beim ZDF-Politbarometer wurde kürzlich auch die Frage gestellt, wie die Bevölkerung schärfere Gesetze bei gleichzeitiger Steigerung der Fleischpreise fände und da haben 92 Prozent der Befragten das sehr positiv gesehen. Außerdem haben sich die Politiker jetzt auch schon weiter aus dem Fenster gelehnt. Der Skandal ist einfach dermaßen groß. Zwei Landkreise in NRW mit 460.000 Betroffen, die darunter leiden müssen, dass ein Einzelner einfach nur profitgeil ist.
Dass die Bedingungen in der Branche mies sind, ist ja seit Jahrzehnten ein offenes Geheimnis. Warum denken Sie, dass es jetzt plötzlich auch in der Öffentlichkeit ein Umdenken gibt und es nicht weiter ignoriert wird?
Adjan: Wir kämpfen ja seit annähernd 20 Jahren dagegen dieses System, das wir sogar ‘System Tönnies’ nennen. Wenn man so was erzählt, dann glauben die Leute es nicht. Jetzt haben die Menschen die Bilder vor Augen und das erzeugt Betroffenheit. Corona funktioniert wie ein Brennglas, aber es ist traurig, dass es erst so weit kommen musste. Aber immerhin scheint es jetzt langsam auch in den Köpfen der Politiker anzukommen.
Wird sich jetzt etwas ändern?
Adjan: Die großen Fleischproduzenten beteuern ja jetzt, dass sie freiwillig alles ändern würden. Das, was vor drei Wochen noch 'unmöglich' war, soll jetzt möglich werden: Sie wollen die Arbeitnehmer selbst beschäftigen. Aber sie sagen nicht offen, wo genau. Tönnies hat zig eigene Subunternehmen und eigene Werkvertragsfirmen. Solang die Arbeiter nicht an die Stammbelegschaft angegliedert werden, wird sich nichts ändern. Deswegen sind wir als NGG auch bei keinem Runden Tisch, weil wir sagen, die haben uns 20 Jahre verarscht. Es braucht jetzt harte Gesetze, die konsequent durchgesetzt werden und keine Schlupflöcher haben.
Larissa Eberhardt