Die Zahl der mit dem neuen Coronavirus Infizierten ist aktuellen Berechnungen zufolge deutlich höher als die Zahl der festgestellten Fälle. Experten des Imperial College London gehen davon aus, dass bis zum 18. Jänner bei etwa 4000 Menschen in der chinesischen Stadt Wuhan Symptome aufgetreten sind. Das ging aus einem Bericht des Zentrums für die Analyse globaler Infektionskrankheiten hervor, der am Mittwoch veröffentlicht wurde. Bis Donnerstag wurde das Virus bei 571 Menschen nachgewiesen, wie die chinesische Gesundheitsbehörde berichtete.
Die Schätzung der britischen Experten geht auf ein Rechenmodell zurück, in dem die im Ausland festgestellten Infektionen mit der Zahl der Flugreisenden, der Bevölkerung und der angenommenen Inkubationszeit verknüpft wurden. Es sei wahrscheinlich, dass die Zahl der tatsächlich Infizierten deutlich höher ist als die Zahl der nachgewiesenen Fälle. Mit der Ausweitung der Tests und der Beobachtung des Geschehens sei zu hoffen, dass die Unterschiede zwischen den geschätzten und den nachgewiesenen Fallzahlen schrumpfen.
Die Forscher vom Imperial College gehen von einer Inkubationszeit von fünf bis sechs Tagen aus. Dabei handelt es sich aber um eine Schätzung auf Grundlage von Erfahrungen mit ähnlichen Krankheiten. Zwischen dem Ausbruch der Krankheit und der Diagnose würden aber wohl häufig weitere vier bis fünf Tage vergehen, hieß es in dem Bericht.
Die Lungenkrankheit, von der vor allem Menschen in der chinesischen Millionenmetropole betroffen sind, hat nach bisherigen Erkenntnissen 17 Menschenleben gefordert. Wuhan wurde inzwischen praktisch abgeriegelt. Wie die Stadtverwaltung mitteilte, sollten ab Donnerstagmorgen Flüge, Züge, Fähren und Fernbusse gestoppt werden. Bewohner Wuhans wurden aufgefordert, die zentralchinesische Stadt nicht mehr zu verlassen. Auch die nahe Wuhan gelegene Stadt Huanggang kündigte eine Unterbrechung der öffentlichen Bus- und Bahnverbindungen an, wie das örtliche Fernsehen berichtet. Die Behörden rufen die Bürger dazu auf, die Stadt nur unter besonderen Umständen zu verlassen.
Staatliche chinesische Medien berichteten, dass die Autobahn-Mautstellen in der Nähe von Wuhan geschlossen würden, wodurch die Straßenausfahrten abgeschnitten seien. Eine Einwohnerin der zentralchinesischen Stadt sagte, sie könne Wuhan nicht verlassen, weil Wachposten die Zufahrt zur Autobahn blockierten. Menschen drängten sich in Krankenhäusern für Untersuchungen, räumten die Regale der Supermärkte leer und an den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen.
In Rom wurden 202 Flugpassagiere und Besatzungsmitglieder, die aus Wuhan gekommen sind, nach Angaben eines Flughafensprechers auf Anzeichen einer Infektion mit dem Coronavirus überprüft. Sie seien an Bord einer Maschine der China Southern Airlines in die italienische Hauptstadt gekommen. Es sei das erste Mal, dass eine derartige Überprüfung vorgenommen werde, seit die italienischen Gesundheitsbehörden diese Woche Sonderkontrollmaßnahmen anordneten, um eine Übertragung des Virus zu verhindern. Informationen über mögliche Verdachtsfälle lagen zunächst nicht vor.
Im Gegensatz zum Ausbruch des SARS-Virus, der in China begann und in den Jahren 2002 bis 2003 fast 800 Menschen tötete, veröffentlicht die chinesische Regierung regelmäßig neue Zwischenstände, um Panik in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Die stellvertretende chinesische Ministerpräsidentin Sun Chunlan erklärte staatlichen Medien zufolge während eines Besuchs in Wuhan, dass die Behörden offen im Umgang mit dem Virus und mit dessen Bekämpfung sein müssten.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wollte am Donnerstag ihr am Vortag begonnenes Krisentreffen fortsetzen, um zu entscheiden, ob der Ausbruch einen internationalen Gesundheitsnotstand darstellt. Damit verbunden wären schärfere Maßnahmen zur Bekämpfung einer Krankheit. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus lobte die Abschottung der Elf-Millionen-Metropole Wuhan als eine "sehr, sehr starke Maßnahme". Dies zeige die Bereitschaft der chinesischen Behörden, die Risiken für das In- und Ausland zu minimieren.