Ein Stück Schnur hält den Rollstuhl von Herlande Mitile zusammen. Weit kommt sie damit nicht. Nur dank der Hilfe ihrer Nachbarn kann die 36-Jährige überleben. Mitile ist eines der hunderttausenden Opfer des schweren Erdbebens, das Haiti am Nachmittag des 12. Jänner 2010 erschütterte. Mehr als 200.000 Menschen starben damals, erschlagen von den Trümmern oftmals nicht sachgemäß gebauter Häuser.
Auch Mitile wurde verschüttet. Acht Tage lag sie eingequetscht unter Schutt, bis sie schwer verletzt gerettet wurde. Die Hüfte und die Wirbelsäule mussten mit Metallplatten verschraubt werden. "Der Arzt damals sagte, dass ich mit Physiotherapie wieder gehen lernen könnte", erzählt Mitile. Doch die gibt es nur in der Stadt und für die Fahrt dorthin fehlt ihr das Geld. "Dadurch wurde ich erst richtig behindert."
Modell für Wiederaufbau
Die Mutter und ihre beiden Töchter leben in Lumane Casimir. Die nach einer haitianischen Sängerin benannte Neubausiedlung sollte ein Modell für den Wiederaufbau des bitterarmen Karibiklandes werden. 50 Menschen, die seit dem Erdbeben behindert sind, schenkte der Staat ein Haus dort. Miltile war eine von ihnen. Insgesamt 3.000 erdbebensichere Wohnungen sollten dort entstehen, dazu ein Markt, eine Krankenstation, eine Schule und ein Gewerbegebiet. Doch das vielversprechende 3D-Modell wurde nie realisiert.
Wie hunderte andere Projekte in Haiti auch blieb Lumane Casimir eine Baustelle. Die Arbeiten hier ruhen seit 2014. Nicht einmal die Hälfte der Häuser ist fertig. Grund dafür: der riesige Korruptionsskandal, der die Haitianer seit 2018 auf die Straße treibt.
Finanzierung aus Venezuela
Finanziert werden sollte die Siedlung aus dem venezolanischen Solidaritätsfonds Petrocaribe, aus dem der Präsident Jovenel Moise Milliarden veruntreut haben soll. Aufträge seien ohne Ausschreibung vergeben worden, Verträge nicht vom Rechnungshof genehmigt worden, Freunderlwirtschaft überall, moniert Velina Charlier, Mitglied der Bürgerbewegung Petrochallenge. Seit Sommer 2018 demonstrieren die Menschen im ganzen Land für Transparenz und Aufklärung der Affäre.
"Ich bin hierhergezogen, weil die Mieten in meinem alten Viertel zu teuer wurden", sagt William Saint-Pierre über Lumane Casimir. Der 62-Jährige nahm einfach eines der leer stehenden bunten Häuschen in Besitz. Niemand fragt nach Miete oder verlangt Steuern für seinen Getränkestand. Die Bewohner des neuen Dorfes verwalten sich selbst.
Für Saint-Pierre mag es von Vorteil sein, dass der Staat sich nicht für die Menschen in der abgelegenen Neubausiedlung interessiert. Herlande Mitile in ihrem Rollstuhl verzweifelt daran. Sie kann sich dort draußen keine Arbeit suchen, staatliche Unterstützung bekommt sie nicht.
"Vor dem 12. Jänner 2010 habe ich mich irgendwie durchgeschlagen, jetzt bin ich hilfloser als ein Baby", sagt Mitile. "Manchmal möchte ich sterben", fügt die Invalidin hinzu, als ihre zwölf und 16 Jahre alten Töchter es nicht hören können. Vom Staat und der Regierung fühlt sie sich völlig im Stich gelassen. "Wenn wir auf die Erfüllung ihrer Versprechen hätten warten müssen, wären wir nicht mehr am Leben."
Von Amelie Baron/AFP