"È un incubo”, „es ist ein Albtraum“, darüber ist man sich in der Lagune einig: Es ist ein Albtraum, den Venedig gerade erlebt. Obwohl acqua alta für sie zum Alltag gehört. Obwohl sie mit dem Meer auf du und du sind, Gummistiefel immer in Reichweite und die Gezeiten stets im Blick haben. 
Was sich derzeit in einer der schönsten Städte der Welt abspielt, ist allerdings mit herkömmlichen Schutzmechanismen nicht zu bewältigen. Mehrmals stand den Menschen in der historischen Altstadt in dieser Woche das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Die Schäden, die es anrichtet, werden immer größer. Das „alta acqua eccezionale“ übersteigt die Pegelstände für den der „codice rosso“, die höchste Gefahrenstufe definiert wurde, bei Weitem.  

Enorme Wucht

„Das Ärgste war der Scirocco, die Flut kam mit solcher Wucht daher“, sagt eine Venezianerin, „binnen kürzester Zeit war das Wasser überall.“ In Wohnhäusern und Kirchen, in Palazzi, Lokalen und Shops. In Geschäften der historischen Altstadt hat das Jahrhunderthochwasser Regale leer geräumt, alles beschädigt, das nicht bruchsicher und wasserdicht ist. Boote und Schiffe wurden an Land geschleudert. Tagelang war kaum Bootsverkehr möglich.  

Einige Supermärkte sind geschlossen, andere ausverkauft. In Nobelboutiquen nahe der Piazza San Marco stehen leere Kleiderständer hinter angelaufenen Vitrinen. Im Hotel gibt es keine Panini zum Frühstück, sondern Brot aus der Packung, „da der Bäcker nicht liefern kann.“ Auf Sesseln liegen Plastikfolien, die stoffbezogene Sitzfläche ist nass. 

"Wir müssen arbeiten"

Jede Minute, in der sich die Lage etwas entspannt, nützen die Menschen, um aufzuräumen. „Es soll ja wieder wie ein Geschäft aussehen“, sagt der Betreiber der „Cuoieria Kalimala“ im Sestiere Castello, der Taschen, Schuhe und Gürtel aus Leder handfertigt. „Wir müssen arbeiten. Wir müssen ja hohe Mieten bezahlen, den Strom, das Licht, die Steuern“, erklärt er. Dutzende Paar Schuhe habe er wegwerfen müssen. „Ich fülle die Regale jetzt. Am Abend muss ich sie wieder ausräumen. Am Sonntag soll das Wasser wieder auf 160 Zentimeter steigen.“ Der materielle Schaden sei groß, die Ungewissheit sei sehr belastend. 

Pizzerias und Ristoranti sind geöffnet, bis das Wasser die Schwelle übersteigt, die alle vor ihren Lokalen errichtet haben. Dann werden die Möbel, wenn möglich, in Sicherheit gebracht, die Eingänge, mit dicken Schläuchen wird das Wasser nach außen gepumpt. 
Luigi Frizzo nennt sein Buchantiquariat, in dem eine Gondel steht, „Libreria Acqua Alta“. Samstagvormittag liegt ein Haufen nasser Bücher in der Calle Longa S.M. Formosa und im Geschäft versuchen die Angestellten, zu retten, was noch zu retten ist. „Der Schaden ist enorm“, sagt Frizzo. 

Katastrophentouristen

Im Cafe Florian und auch gegenüber im Cafe Quadri auf der Piazza San Marco stehen die Stilmöbel zwischen Trockengeräten. Die Espressomaschinen hat das Meer ruiniert, ebenso wie das Muranoglas rundum. Nur die Möwen scheinen sich wohlzufühlen – und einige Katastrophentouristen, die, per Handy auf dem Selfie-Trip vor Trümmern posieren. 

Das Cafe Florian muss trocknen
Das Cafe Florian muss trocknen © (c) elisabeth peutz

Viele Venezianer sind der Meinung, dass man das Acqua alta eccezionale vermeiden hätte können: Auf Wänden stehen Hassparolen betreffend das Deichsystem „Mose“, vor allem seit Luca Zaia, der Präsident der Region Veneto erklärt hat, er wundere sich, dass es versagt hat. Seit Jahrzehnten dümpelt das Milliardenprojekt im Politsumpf vor sich hin. Dass Zaia den Tag, an dem das Hochwasser in der Lagune die 186-Zentimeter-Marke überstiegen hatte, bei einer Parteiveranstaltung der Lega in Bologna verbracht hat, nehmen ihm viele übel. 
Gespenstisch ist es derzeit in der Lagunenstadt, in der häufig die Sirenen heulen, um mit einem speziellen Signal vor einer neuen Welle des „acqua alta“ warnen, das Venedig laut Experten heute um die Mittagszeit wieder heimsuchen wird.  

Tückisches Salz

Es ist nicht nur die Wucht, mit der es daher kommt, wenn starker Wind mit im Spiel ist, sondern auch der Salzgehalt, der das Wasser tückisch macht. Ob sich so die Natur gewaltig rächt? Auch, indem sie Kulturgüter zerstört? „Der Boden des Markusdoms ist salzgetränkt” sagt Pierpaolo Campostrini, Prokurator von San Marco, “Marmor und Mosaike sind in Gefahr”. Ähnliches droht vielen Kirchen der Stadt, die zum Weltkulturerbe zählt. 

Noch steht nicht fest, wie groß die Schäden sind, die das acqua alta bereits angerichtet hat und noch anrichten wird. Klar ist, dass sie enorm sind. Noch mehr als den Untergang der Kunstschätze fürchten allerdings viele ihren eigenen Ruin. Jetzt vielleicht mehr denn je: In der Vorwoche waren italienische Zeitungen voll der Expertisen, mit denen nicht Wahrsager, sondern Wissenschafter prophezeien, dass nicht nur Venedig, sondern ganze Küstenstriche schon in wenigen Jahrzehnten überflutet sein werden, sollte es nicht gelingen, den Klimawandel zu stoppen.