Nach dem gescheiterten Anschlag auf eine Synagoge in Halle/Saale und der Tötung zweier Menschen durch einen Mann will der deutsche Innenminister Horst Seehofer am Donnerstag über den Ermittlungsstand informieren. Ungeklärt ist bisher etwa die Identität der beiden Opfer und ob ein im Internet aufgetauchtes Bekennervideo sowie ein angebliches "Manifest" tatsächlich vom mutmaßlichen Täter stammen.
Seehofer will am Nachmittag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über neue Erkenntnisse informieren. Der mutmaßliche Rechtsextremist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wurde am Mittwochnachmittag festgenommen. Er hatte nach Angaben aus Sicherheitskreisen gegen Mittag versucht, die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen.
Jom Kippur
Mehr als 50 Menschen hielten sich zu dem Zeitpunkt in dem Gotteshaus auf und feierten das wichtigste jüdische Fest, Jom Kippur. Nachdem der Anschlagversuch scheiterte, soll der 27-jährige Deutsche vor der Synagoge und danach in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen und mindestens zwei weitere verletzt haben. B. soll die Tat gefilmt und per Helmkamera live ins Internet übertragen haben, bevor er vom Tatort floh.
Dokument im Internet
Nach der Tat tauchte ein Dokument im Internet auf, bei dem es sich nach Angaben einer Expertin um eine Erklärung des Angreifers zu handeln scheint. Das PDF-Dokument zeige Bilder von Waffen und enthalte einen Verweis auf das Live-Video, das von der Tat verbreitet worden sei, schrieb Rita Katz, Leiterin der auf die Beobachtung von Extremisten spezialisierten Site Intelligence Group, auf Twitter.
"Anti-Weiße töten"
In dem Text wird laut Katz das Ziel genannt, "so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, vorzugsweise Juden". Das Dokument sei anscheinend am 1. Oktober angelegt worden und gebe Hinweise darauf, wie viel Planung und Vorbereitung der Täter in die Attacke gesteckt habe. Ob es tatsächlich von dem mutmaßlichen Täter stammt, ist vorerst unklar. Katz bezog sich auch auf ein Bekennervideo, das der mutmaßliche Täter in sozialen Netzwerken hochgeladen haben soll.
Das Video dokumentiert allem Anschein nach den Ablauf der Angriffe in Halle aus Sicht des Attentäters. Die Aufnahmen stammen wohl von einer Kamera, die am Helm des Schützen befestigt war. Vorerst gab es aber keine Bestätigung der Behörden dafür, dass es sich bei dem Mann im Video um den Attentäter handelt. Das Video wurde nach Angaben der Streaming-Plattform Twitch von rund 2.200 Menschen angesehen, bevor es dann nach 30 Minuten gelöscht wurde. Über den vor etwa zwei Monaten erstellten Account sei zuvor nur einmal etwas veröffentlicht worden.
Defekte an der Waffe
Eine noch höhere Opferzahl wurde möglicherweise von Defekten an mindestens einer Waffe des Täters verhindert. In dem angeblichen Tatvideo ist zu sehen, wie in mindestens zwei Fällen Ladehemmungen das Leben von Menschen zu retten scheinen. Der Täter setzte eine vermutlich im Selbstbau hergestellte Langwaffe, eine Pistole und Sprengsätze ein.
Der Präsident des Zentralrats der Juden erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizei. "Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös", sagte Schuster. "Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt." Nur glückliche Umstände hätten ein Massaker verhindert, sagte Schuster in Würzburg. "Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher da gewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock."
Rechte Subkultur
Nach Einschätzung von Extremismusforscher Matthias Quent wollte der Täter offenkundig eine international verbreitete, rechte Internet-Subkultur erreichen. "Er spricht Englisch, und er greift Verschwörungstheorien auf, zum Beispiel über die angeblich zerstörerische Macht des Judentums. Er äußert sich auch abwertend über Feminismus", sagte Quent. Das seien Motive der weltweiten populistischen und radikalen Rechten. "Das Video folgt der Ästhetik eines Videospiels, auch durch die Ego-Shooter-Perspektive", sagte Quent.
Innenminister Seehofer hatte schon am Mittwochabend gesagt, der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen rasch an sich gezogen hatte, habe "ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund". Seehofer sprach von einem antisemitischen Motiv. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) übermittelte den Angehörigen der Opfer ihr tiefes Beileid. Die Solidarität gelte allen Jüdinnen und Juden am Feiertag Jom Kippur, schrieb Regierungssprecher Steffen Seibert auf Twitter. Am Abend nahm Merkel an einer Solidaritätsveranstaltung an der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin teil.
In Halle legten Menschen am Marktplatz Blumen und Kerzen nieder. Auch in anderen deutschen Städten versammelten sich Menschen in der Nähe von Synagogen und gedachten der Toten.