Zu Mittag, gegen 12 Uhr, ging ein Notruf bei der Polizei in Halle an der Saale ein. Mindestens ein Täter hat Schüsse abgegeben. Zwei Menschen starben, zwei weitere wurden schwer verletzt. Dennoch hätte es womöglich noch weitaus schlimmer kommen können. Denn heute ist Yom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, und das primäre Ziel der Angreifer war offenbar eine der beiden Synagogen in Halle, in der zur Zeit des Angriffes rund 80 Gläubige waren.
Die jüdische Gemeinde berichtete, der Täter habe versucht, das Tor der zum jüdischen Feiertag Yom Kippur voll besetzten Synagoge aufzuschießen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorotzki, sagte dem "Spiegel" weiter, die Sicherungsvorkehrungen am Eingang hätten "dem Angriff standgehalten". Später wurden selbstgebaute Sprengsätze vor der Synagoge gefunden.
Weil er sich zur Synagoge keinen Zugang verschaffen konnte, musste ein Opfer vor der Synagoge das Leben lassen, danach suchte der Schütze der Polizei zufolge einen nahe gelegenen Dönerladen auf, wo er einen Mann erschoss. Einem Augenzeugenbericht zufolge handelte es sich bei dem Opfer um einen Handwerker, der sich sein Mittagessen holen wollte. Die Gegend um das Lokal - etwa 600 Meter entfernt von der Synagoge - war danach abgesperrt. Die Stadt rief die Menschen überall in Halle dazu auf, in Sicherheit in Gebäuden zu bleiben.
Kritik an Polizei: "Zu spät bei Synagoge"
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde der ostdeutschen Stadt Halle, Max Privorozki, hat der Polizei eine zu langsame Reaktion beim versuchten Angriff auf die Synagoge vorgeworfen. "Die waren zu spät vor Ort", sagte Privorozki in einem Video, das am Mittwoch vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus auf Twitter veröffentlicht wurde.
Mindestens 10 Minuten hätten sie gebraucht, als er angerufen und gesagt habe: "bewaffneter Anschlag gegen die Synagoge". Privorozki machte deutlich, dass mehrfach auch im Bundesland Sachsen-Anhalt der Wunsch nach Polizeischutz für Synagogen geäußert worden sei - "genauso wie in großen Städten wie Berlin, München Frankfurt".
Privorozki berichtete, dass in der Gemeinde 51 Menschen waren - das habe die Polizei bei der späteren Evakuierung erzählt. Neben Gemeindemitgliedern war nach seiner Darstellung auch eine Gruppe junger US-Amerikaner bei der Feier zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur dabei.
Der Gemeinde-Vorsitzende erzählte: "Wir haben zuerst Schüsse gehört." Ein Sicherheitsmann und er hätten dann über den Monitor einer Kamera gesehen, wie jemand, der wie ein Spezialeinheitsoldat gekleidet gewesen sei, jemanden erschossen habe. Danach habe er gegen die Tür geschossen.
Die Leute hätten sich in der Synagoge verbarrikadiert. Beide Eingangstüren seien verbarrikadiert gewesen, mit Möbeln, mit allem Möglichen - für den Fall, dass der Täter die Außentür aufgebrochen hätte. Gott sei Dank habe er dies aber nicht geschafft, so Privorozki.
27 Jahre alter Deutscher
Wie in den Abendstunden bekannt wurde, soll es sich bei dem Schützen um den 27 Jahre alten Deutschen Stephan B. handeln. B. konnte kurz nach der Tat verhaftet werden. Er soll seinen Amoklauf mit einer Helmkamera mitgefilmt und im Internet auf der Streamingplattform Twitch live übertragen haben. Das wurde allerdings schnell wieder gelöscht.
In den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Filmende vergeblich versucht, in die Synagoge an der Humboldtstraße zu gelangen. Die Tür bleibt allerdings verschlossen. Daraufhin schießt der Täter auf der Straße einer Passantin mehrfach in den Rücken, die ihn zuvor angesprochen hatte. Die Frau bleibt leblos neben dem Fahrzeug des Täters liegen. Es ist auch zu sehen, wie der Mann in Kampfmontur auf der Straße auf einen Mann zielt, seine Waffe hat aber wohl Ladehemmung. Das Opfer, vermutlich ein Kurierfahrer, kann unverletzt entkommen. "Pech", sagt die Stimme des Filmenden.
Der mutmaßliche Täter fährt danach mit einem Auto durch die Stadt. Er sagt immer wieder auf Englisch, dass er ein "Loser" (Verlierer) sei. Der Mann gibt zudem extrem antisemitische Äußerungen von sich.
Helikopter in Landsberg
Auch in Landsberg, rund 15 Kilometer östlich von Halle, gab es Schüsse, bestätigte eine Polizeisprecherin in Halle. Menschen sollen auch hier Gebäude und Wohnungen nicht verlassen, hieß es.
Im nahe gelegenen Leipzig verstärkte die Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge. Auch vor der Synagoge in Dresden wurde nach Angaben der Polizei der Schutz erhöht. In anderen deutschen Städten wurde der Schutz entsprechend verstärkt.
Der Bahnhof von Halle wurde wegen polizeilicher Ermittlungen gesperrt. Das teilte die Deutsche Bahn über Twitter mit. Es komme zu Verspätungen. Wie in Deutschland sind auch in Wien die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtung seitens der Polizei nochmals verstärkt worden. Zwar sei der Objektschutz aufgrund des jüdischen Feiertages Yom Kippur ohnehin stärker, aufgrund der unsicheren Lage in Deutschland seien nun aber auch Beamte der Sondereinheit Wega hinzugezogen worden.
"Die Gefährdungslage für die Bevölkerung wird mittlerweile nicht mehr als akut eingestuft", teilte die Polizei am Mittwochabend über den Kurzbotschaftendienst Twitter mit. "Sie können wieder auf die Straße, die Warnungen sind aufgehoben."
Anhaltspunkte für Rechtsextremismus
Der Angriff in der ostdeutschen Stadt Halle mit zwei Toten hat nach Angaben von Deutschlands Innenminister Horst Seehofer (CSU) offenbar einen rechtsextremistischen Hintergrund. Nach Einschätzung des Generalbundesanwalts "gibt es ausreichende Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund", erklärte Seehofer am Mittwochabend.
UN-Generalsekretär António Guterres hat den Vorfall mit tödlichen Schüssen in Halle scharf verurteilt. Guterres bewerte den Vorfall als "eine weitere tragische Demonstration von Antisemitismus", teilte ein UN-Sprecher am Mittwoch in New York mit.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat sich am Mittwoch schockiert zu den Schüssen in der ostdeutschen Stadt Halle geäußert. Es seien "entsetzliche Nachrichten über zwei Tote und einen Angriff auf eine Synagoge in Halle - heute an #JomKippur", teilte Van der Bellen über den Kurznachrichtendienst Twitter mit.
Sein Mitgefühl sei bei den Opfern, ihren Angehörigen und ihren Freundinnen und Freunden. "Wir müssen alles tun, damit Jüdinnen und Juden in Sicherheit leben können", betonte der Bundespräsident. Yom (Jom) Kippur ist der höchste Festtag im Judentum.
Die "Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen" (IMÖ) verurteilte den mutmaßlichen Angriff auf die Synagoge in Halle. "Heute sind zwei Menschen einem Angriff unmittelbar neben der Synagoge in Halle zum Opfer gefallen. Als Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen drücken wir unsere Betroffenheit, unser Beileid und vor allem unsere vollste Solidarität aus", hieß es in einer Aussendung.
Weiters erklärte IMÖ-Obmann Tarafa Baghajati: "Gleichzeitig steigt die Sorge angesichts solcher Gewalttaten um das Klima friedlichen und respektvollen Zusammenlebens und den sozialen Zusammenhalt in Europa. Daher appellieren wir vor allem an politische Verantwortungsträger/innen Maßnahmen zu setzen, die Antisemitismus und jede andere Form des Hasses gegen Minderheiten wirksam entgegenwirken. Vonseiten der Zivilgesellschaft streben wir danach den Dialog zwischen Menschen jüdischen und Menschen muslimischen Glaubens zu intensivieren, um gemeinsam gegen Feindbilddenken anzugehen."
Netanyahu: "Ausdruck für Antisemitismus in Europa"
Israels Regierungschef Benjamin Netanyahu hat den Angriff als einen "weiteren Ausdruck für Antisemitismus in Europa" bezeichnet. Die Attacke habe am jüdischen Nationalfeiertag Yom Kippur stattgefunden und damit am "heiligsten Tag für unser Volk", sagte er in einer Mitteilung seines Büros am Mittwoch.
"Ich fordere die Behörden in Deutschland auf, weiterhin entschlossen gegen das Phänomen des Antisemitismus vorzugehen", fügte der Premierminister hinzu.
"Im Namen des Volkes von Israel spreche ich den Familien der Opfer mein Beileid aus und wünsche den Verletzten eine rasche Genesung", schrieb Netanyahu ferner.