Wie sind die Zustände in dem Flüchtlingslager im bosnischen Vučjak?
Karin Tschare-Fehr: Eine Katastrophe. Dieses Camp steht auf einer ehemaligen Mülldeponie, die provisorisch mit Erde zugedeckt wurde. Das war der einzige Ort, den die Gemeinde bereit war, zur Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist ein gutes Bild dafür, was wir in Europa mit diesen Menschen machen, die da jetzt kommen. Am Schluss werfen wir sie auf den Müll.

Wie leben die Menschen dort?
Fehr: In Zelten meist zu siebt oder zu acht. Sie sind vor Wind und Regen nicht sicher. Die Leute liegen auf dem blanken Plastikboden. In den Nächten kühlt es auf zehn, zwölf Grad ab. Viele decken sich zu dritt mit einer Decke zu, oder haben gar keine.

In welchem Zustand sind sie?
Fehr: Viele wurden von der kroatischen Polizei misshandelt. Auf sie wurde mit Stöcken und Gewehren eingeschlagen. Oft kommen sie von der Grenze zurück, nur mit einer Hose bekleidet. Die Polizei nimmt ihnen die Schuhe weg, Dokumente werden verbrannt, werden zerstört oder entwendet. Prinzipiell sind die Leute sehr gesund, erst dadurch, wie sie hier in Europa behandelt werden, geraten sie in einen Zustand, in dem sie medizinisch versorgt werden müssen: Dadurch, dass die Leute am nackten Boden schlafen müssen, werden sie krank. Dadurch, dass sie von der Polizei geschlagen werden, muss ich Wunden versorgen: Knochenbrüche, Verletzungen der inneren Organe. In den zehn Tagen, in denen ich dort gearbeitet habe, wurde nur in einem Fall zugelassen, dass jemand im Krankenhaus in der Stadt behandelt wird. Mit einem Verdacht auf Knochenbruch kommst du da nicht ins Spital.



Kroatien weist die Vorwürfe zurück, dass Flüchtlinge von der Polizei misshandelt werden.
Fehr: Mir wurde von diesen Gewalttaten berichtet und ich habe diese Verletzungen gesehen und versorgt.

Wie viele Mediziner arbeiten im Lager?
Fehr: In meiner Zeit dort war ich die einzige Ärztin. Es hieß zwar, dass noch ein Arzt kommen sollte, der Verschreibungen macht. Das konnte ich ja nicht, weil ich die lokalen Medikamente nicht kenne. Aber es kam niemand. Das Lager wird vom lokalen Roten Kreuz geführt. Das hat allerdings auch nur sehr wenige Mittel. Die Grundausstattung, die wir bekommen haben, war so minimal, damit hätten wir nie und nimmer arbeiten können. Es hat sogar an Handschuhen gefehlt.

Wie viele Menschen leben dort?
Fehr: Zwischen 400 und 700. Aber das ist ein dauerndes Kommen und Gehen. In Bihać werden junge Männer auf der Straße kontrolliert. Wenn sie keine gültigen Aufenthaltspapiere haben, werden sie ins Lager nach Vucjak geschickt. Das liegt nur einen Kilometer entfernt von der Grenze zu Kroatien. Wenn sie dann versuchen, über die Grenze zu gehen, werden sie von der kroatischen Polizei geschlagen. Dann kommen sie wieder nach Bosnien, wo sie auch nicht erwünscht sind, und so geht das im Pingpong hin und her. Die Leute sind gezwungen, in dieser Grenzregion zu bleiben. Sie haben ja keine Dokumente, kein Geld. Die Gegend wird mit der Zeit immer mehr zum Nadelöhr.

Von wo sind die Flüchtlinge?
Fehr: Die meisten kommen aus Pakistan, Bangladesch oder Afghanistan. Das wissen hier ja viele nicht: Die Taliban haben ihre Ausbildungslager in Pakistan. Ich habe viele Pakistani kennengelernt, deren Geschwister von den Taliban umgebracht worden sind. Es gibt viel Gewalt, von der wir hier nichts hören. In dem Lager in Vučjak sollten nur Männer untergebracht werden. Man sieht dort aber auch viele Minderjährige. Alle ohne Papiere landen dort. Die Leute stehen unter massivem Stress. Es gibt immer wieder Gewaltausbrüche, Schlägereien. Im Lager haben wir selbst gesehen, wie es zu einer Streiterei gekommen ist, die Polizei hat eingegriffen und alle Beteiligten willkürlich geschlagen.

Wie müsste die Politik auf die Lage in Bosnien reagieren?
Fehr: Politiker, die solche Situationen wie in Bosnien kreieren, gehören zur Verantwortung gezogen. Wir müssten ein besseres System für einen gezielten Zuzug haben. Es braucht Solidarität. Wir müssen auch die Situation in den Herkunftsländern verbessern, damit weniger Menschen kommen. Denn fast niemand kommt freiwillig.

Was erzählen die Flüchtlinge, wohin sie wollen?
Fehr: Die meisten haben Verwandte, die schon seit vielen Jahren in Europa leben. Sehr viele davon in Deutschland und Frankreich. Gerade die Leute aus Bangladesch und Pakistan haben hier Anknüpfungspunkte. Die Afghanen rennen hingegen um ihr Leben. Sie sagen: Die Taliban wissen alles, haben unsere Familien ausgerottet, wir können nie mehr wieder zurück.

Warum helfen Sie in Bosnien?
Fehr: Ich habe 2015 die Bilder im Fernsehen gesehen, als die Grenzen geöffnet wurden. Da hab ich gesagt: So, das ist der Punkt, wo ich es nicht mehr aushalte. Jeder hat die Aufgabe, seinem nächsten zu helfen. Das ist zutiefst menschlich. In Vučjak habe ich von den Menschen so viel Herzenswärme geschenkt bekommen. Sie sind diszipliniert und kooperativ in dieser schlimmen Situation.