Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit zog im Herbst 2017 eine mysteriöse, schwach radioaktive Wolke über weite Teile Europas. In detektivischer Forschungsarbeit fand ein Team um den österreichischen Strahlenphysiker Georg Steinhauser nun den sehr wahrscheinlichen Verursachungsort im südlichen Ural (Russland). Reaktorunfall gab es dort allerdings keinen, berichten sie im Fachblatt "PNAS".
Gravierendste Freisetzung seit Fukushima
Zwar bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung, trotzdem war das Ereignis Ende September und Anfang Oktober 2017 die gravierendste Freisetzung von radioaktivem Material seit Fukushima 2011. Kein Staat hat bisher die Verantwortung für die rätselhaft hohe Konzentration übernommen. "Gemessen wurde radioaktives Ruthenium-106. Die Messwerte weisen auf die wahrscheinlich größte singuläre Freisetzung von Radioaktivität aus einer zivilen Wiederaufbereitungsanlage hin", so der an der Universität Hannover tätige Steinhauser in einer Aussendung der Technischen Universität (TU), deren Experten an der Studie mitbeteiligt waren.
Anhand von insgesamt rund 1.300 Proben analysierten 70 Wissenschafter aus ganz Europa unter der Leitung Steinhausers und Olivier Massons vom IRSN (Frankreich) einerseits, ob es sich bei dem Vorfall um einen Reaktorunfall gehandelt haben und andererseits, von wo die Radioaktivität ausgetreten sein könnte. Die Verbreitung der Ruthenium-106-Wolke war erstaunlich: Nicht nur in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas, Asiens und der arabischen Halbinsel wurden erhöhte Werte registriert, auch in der Karibik wurden sie gemessen. Aus Österreich gingen am Atominstitut der TU Wien und von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) gewonnene Messdaten in die Untersuchung ein.
Die europaweiten Höchstwerte erreichten 176 Millibecquerel pro Kubikmeter Luft. Das entspricht 100-fach erhöhten Werten des radioaktiven Isotops mit einer Halbwertszeit von 374 Tagen, als sie nach der Fukushima-Katastrophe in Europa registriert wurden. Insgesamt habe es sich mit geschätzten 250 bis 400 Terabecquerel an freigesetztem Ruthenium-106 um eine "beträchtliche Freisetzung" gehandelt, wie es in der Arbeit heißt.
Dass etwa ein abgestürzter Satellit, der Radioisotope an Bord hatte, die Quelle war oder die Belastung gar von einem größerer Reaktorunfall herrührte, sei aufgrund der Daten auszuschließen. Da neben Ruthenium keine anderen radioaktiven Stoffe in erhöhtem Ausmaß registriert wurden, lag für die Wissenschafter der Schluss nahe, dass der Verursacher eine Wiederaufbereitungsanlage gewesen sein muss. Die gemessen Verteilungsmuster in Kombination mit Modellen über die Wege, die das Ruthenium in der Atmosphäre genommen haben könnte, wiesen auf einen Ursprungsort im südlichen Ural hin, wo sich mit der russischen Nuklearanlage Majak sozusagen ein dafür geeigneter Kandidat befindet.
Katastrophe im September 1957
Diese Anlage ist ein gebranntes Kind: Denn bereits im September 1957 ereignete sich an diesem Ort die zweitgrößte nuklearen Freisetzung in der Geschichte nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986. Beim "Kyschtym-Unfall" am 29. September 1957 war dort ein Tank mit flüssigen Abfällen aus der Plutoniumproduktion explodiert. Das zog in der Gegend starke radioaktive Kontamination nach sich. Aufgrund der neuen Messwerte errechneten nun Masson und Steinhauser just den Zeitraum zwischen dem Abend des 25. September und dem 26. September 2017 mittags als wahrscheinlichen Zeitpunkt der aktuellen Freisetzung. Das korrespondiert fast exakt mit dem 60. Jahrestag des verheerenden Unfalls von 1957.
"Auch wenn es derzeit noch keine offizielle Stellungnahme gibt, haben wir eine recht detaillierte Vorstellung davon, was passiert sein könnte", so Steinhauser. Das Ereignis vor knapp zwei Jahren war demnach "eine gepulste Freisetzung, die rasch wieder vorüber war". Überdies konnten die Wissenschafter zeigen,"dass der Unfall in der Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennelementen passiert ist, und zwar in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Wiederaufbereitung, kurz vor dem Ende der Prozesskette".