Kurz vor der Öffnung zweier Gräber auf einem deutschen Pilgerfriedhof im Vatikan hofft der Bruder der seit 36 Jahren vermissten Emanuela Orlandi auf Aufklärung. "Was am Donnerstag stattfindet, verändert alles", sagte Pietro Orlandi der Nachrichtenagentur AFP. Zugleich erneuerte der 60-Jährige seinen Verdacht, der Heilige Stuhl könnte in das Verschwinden Emanuelas verstrickt sein.
Verschwunden seit 22. Juni 1983
Die damals 15-jährige Tochter eines Vatikan-Angestellten war am 22. Juni 1983 nach dem Musikunterricht nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Im vergangenen Sommer erhielt die Anwältin der Familie einen mit einem Foto versehenen Hinweis, wonach die Überreste der Verschwundenen unter einer Grabplatte auf dem deutschen Pilgerfriedhof verscharrt seien. Daraufhin setzte sie bei der Vatikan-Justiz eine Öffnung der beiden Gräber durch.
Für Pietro Orlandi ist dies viel mehr als ein juristischer Erfolg. "Allein die Tatsache der Öffnung, selbst wenn man nichts findet, bedeutet, dass der Vatikan die Möglichkeit interner Verantwortlichkeiten einräumt", meint der 60-Jährige. Er ist überzeugt: "Es gibt Leute im Vatikan, die etwas wissen, und vielleicht Leute, die verstrickt sind." Orlandi wird bei der Öffnung der Gräber von zwei Prinzessinnen aus dem 19. Jahrhundert dabei sein. Zunächst ist eine Messe geplant, dann beginnt die Aushebung. "Wenn Emanuela tot ist und dort gefunden wird, ist es gerecht, dass ans Tageslicht kommt, was versteckt wurde", mahnt Orlandi.
Der mit dem Fall beauftragte Gerichtsmediziner Giovanni Arcudi kann nach eigenen Angaben direkt nach der Öffnung der Gräber eine erste Schätzung abgeben, ob die Gebeine älter als 150 Jahre sind. Für exakte Daten ist jedoch eine DNA-Analyse nötig, und die kann bis zu zwei Monate dauern. Der Fall der verschwundenen Emanuela ist längst zu einem der größten Rätsel in der jüngeren italienischen Kriminalgeschichte geworden. Immer wieder blühten neue Spekulationen und Verschwörungstheorien auf.
"Fall des internationalen Terrorismus"
Emanuelas Bruder zufolge könnte Papst Johannes Paul II. in den Fall eingeweiht gewesen sein. Sechs Monate nach dem Verschwinden der 15-Jährigen habe das Kirchenoberhaupt die Familie des Mädchens besucht und von einem "Fall des internationalen Terrorismus" gesprochen. "Wenn er bereits die Wahrheit wusste, war dieser Satz die erste falsche Fährte in dieser Geschichte. Ich hatte immer den Eindruck, dass er an diesem Tag abwog zwischen der Wahrheit über das Verschwinden und dem Erscheinungsbild der Kirche. Er hat seine Wahl getroffen." Seither habe eisernes Schweigen im Vatikan geherrscht, klagt Orlandi.
Das habe sich lange auch unter Papst Franziskus nicht geändert. Kurz nach dessen Wahl auf den Stuhl Petri habe er Franziskus getroffen und auf seine Schwester angesprochen, berichtet Orlandi. Er habe zu Franziskus gesagt, er hoffe, dass Emanuela noch am Leben sei. Der Papst habe nur gesagt: "Sie ist im Himmel." In diesem Augenblick habe er gewusst: "Er wusste mehr als wir."