Man muss sich Notre-Dame vorstellen wie eine berühmte Kranke, die mitten in Paris liegt und der alle einen Besuch abstatten wollen. Hinter mit Stacheldraht gesicherten, blickdichten Metallwänden steht sie da, nach wie vor, aufrecht. Fluctuat Nec Mergitur steht im Wappen von Paris, und diese Devise scheint auch auf Notre Dame zuzutreffen: Sie schwankt, aber geht nicht unter.
Wer sich vom Westen dem Hauptportal nähert, wird das Gefühl haben, dass es so schlimm doch gar nicht um sie steht. Über der Rosette klafft ein Loch, der Vierungsturm fehlt. Man sieht auch einen Ausschnitt des von der Hitze verbogenen Baugerüsts, unter dem das Dach weggeschmolzen ist. Wer sich aber vom linken Seineufer der Kathedrale nähert, der begreift das ganze Ausmaß des Desasters: Notre-Dame spielt nicht krank. Dort, wo das Dach war, klafft eine Wunde. Glasfenster, die den Brand überlebt haben, wurden entfernt, große Holzpfeiler- und Platten stützen die Giebel der Seitenschiffe ab. Notre-Dame wirkt aus dieser Perspektive wie eine Ruine.
„Wir werden die Kathedrale wiederaufbauen, noch schöner als vorher“, hatte Emmanuel Macron in der Nacht des Brandes gesagt. Das Feuer war noch nicht einmal gelöscht, da nannte Frankreichs Präsident bereits einen überaus ehrgeizigen Zeitplan. Nicht mehr als fünf Jahre. Vor den Olympischen Spielen, die Frankreich im Sommer 2024 austrägt, soll das Gotteshaus wieder in alter Schönheit und womöglich in neuer, moderner Pracht dastehen, vielleicht mit einem Turm aus Kristall oder mit einem Dach aus Glas.
Zwei Monate nach dem Brand ist die Lage nicht mehr ganz so rosig. Von den Spendenversprechen in Höhe von 850 Millionen Euro, die in den ersten Stunden des Entsetzens gemacht wurden, sind gerade einmal 80 Millionen überwiesen, nicht einmal zehn Prozent. Und unlängst versetzte Phillipe Villeneuve, seit sechs Jahren als Chefarchitekt mit der Restaurierung von Notre Dame beauftragt, die Öffentlichkeit in Schrecken: „Es ist gut möglich, dass das Gewölbe nächste Woche zusammenstürzt“, sagte Villeneuve im Gespräch mit „Le Figaro“. Am Freitag hat Frankreichs Kulturminister Franck Riester die Einschätzung bestätigt. Das Gewölbe kann noch immer einstürzen.“ Rund um Paris, 45 Kilometer vom Zentrum entfernt, wachen jetzt Windmelder über anziehende Stürme. Denn starke Böen könnten genügen, um das mit Löschwasser getränkte Gewölbe zum Einsturz zu bringen.
Notre-Dame mag eine große Baustelle sein, für die Touristen ist die Kathedrale wieder ein Muss. Bis zum Brand war sie das meistbesuchte Denkmal in ganz Europa, knapp 13 Millionen Menschen kamen pro Jahr. Auf den Instagram-Stories ist sie jetzt als Überlebende, womöglich noch attraktiver geworden. Doch auf dem Vorplatz sieht es aus wie auf einer archäologischen Grabungsstätte. Große Zelte sind aufgebaut, in denen die Überreste des teilweise zerstörten Gewölbes und von Skulpturen liegen, von Archäologen sortiert nummeriert, von einem Team von Wissenschaftlern der Kriminalbrigade analysiert. Noch immer ist die genaue Brandursache nicht geklärt.
Seit Wochen sind kleine Roboter im Einsatz, um den Schutt, der sich im Kirchenschiff getürmt hat, auszuräumen. Die Einsturzgefahr ist zu groß, um Arbeiter damit zu betrauen. Die wenigen Handwerker und Architekten, die trotzdem in die Kathedrale müssen, tragen Helm und Schutzanzüge. Durch die beiden Gewölbebögen, die durch den Brand zerstört wurden, fällt das Tageslicht. „Es ist, als hätten wir die Uhr Jahrhunderte zurückgedreht“, sagt Chefarchitekt Villeneuve, weil die Kathedrale so hell erstrahlt wie während ihres Entstehens, „wir haben den Geist des Gesellenvereins von damals wiedergefunden, denselben Elan, dieselbe Komplizenschaft mit allen Handwerkerinnungen.“
Es gibt noch einen Grund, warum keiner in die Kathedrale gelassen wird, außer Staatsgästen, die unbedingt wollen, wie unlängst der kanadische Ministerpräsident Justin Trudeau: Rund 400 Tonnen Blei aus Dach und Turm sind am 15. April in Flammen aufgegangen. Fette, gelbe Rauchwolken stiegen in den Himmel. Das Schwermetall hat sich als Feinstaub über die Île de la Cité gelegt. Welche Folgen das auch für die Gesundheit der Anrainer haben kann, wird nicht öffentlich diskutiert.
Inzwischen sind das nördliche und südliche Seitenschiff freigeräumt. Noch ein, zwei Wochen wird es dauern, so schätzt André Finot, bis die Roboter mit der Arbeit abgeschlossen haben werden.
Streit um den Wiederaufbau
Finot, Sprecher von Notre-Dame, ist ein freundlicher Mann mit ruhiger Ausstrahlung, bei dem sich aus Sorge nur die Augenbrauen grau verfärbt haben. An diesem Freitag kommt er gar nicht mehr zur Ruhe. Er sitzt im Bistrot „La Rosace“, in der Rue du Cloître-Notre-Dame, seinem Stammlokal, und sein Telefon klingelt ohne Unterlass. Für Samstagabend ist schließlich die erste Messe angekündigt. Denn der 16. Juni ist das historische Datum, an dem seit der Restaurierung der Kathedrale durch Eugène Viollet-le-Duc die Kirchweihe gefeiert wird. Montseigneur Aupetit, Erzbischof von Paris, wird sie zelebrieren, mit Bauhelm auf dem Kopf, vor nicht mehr als 30 Vertretern der Kirche und einigen Handwerkern.
Am Tag des Brandes, erzählt Finot, war ein einziger Sicherheitsbeamter in Notre-Dame. Die zuständige Firma hatte schon länger das Team von zwei auf eine Person halbiert. Der Mann hatte um 7 Uhr 30 seinen Dienst angetreten und hätte um 15 Uhr 30 abgelöst werden sollen. Aber es kam niemand. Also blieb er. Es war sein dritter Arbeitstag, als um 18 Uhr 18 die Feueranzeige rot aufleuchte. Er kannte die Kathedrale noch nicht wirklich. Und er konnte den Zahlencode nicht entschlüsseln. Das Feuer ist erst nach dem zweiten Alarm um 18 Uhr 48 im Dachstuhl entdeckt worden. Man habe „eine wertvolle halbe Stunde verloren“, so Finot.
Er gibt sich betont gelassen, was die Varianten des Wiederaufbaus von Turm und Dach betreffen: „Uns geht es nur darum, die Kathedrale so schnell wie möglich wieder für Pilger, Gläubige und Besucher öffnen zu können.“ In Frankreich aber hat sich längst ein Streit am Wiederaufbau von Notre-Dame entzündet. Es kämpfen jene, die sich eine große architektonische Geste erhoffen, ein Pendant zur Pyramide des Louvre, gegen diejenigen, die die Kathedrale in ihrer alten Form aufgebaut sehen wollen. Und wie so oft, wird der Staat am Ende entscheiden, der Präsident der Republik, der sich womöglich in der Stadt verewigen will, wie viele vor ihm auch
Martina Meister aus Paris