Antisemitische Schmiererei an Synagoge in Kalifornien entdeckt. – Mutmaßlicher Todesschütze von Pittsburgh plädiert auf nicht schuldig. – Scotland Yard ermittelt gegen Labour wegen Antisemitismus-Verdachts. – Vorwürfe der NS-Wiederbetätigung gegen zwei BVT-Beamte. – Studie: Deutlicher Anstieg der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. – 44 Prozent der Ungarn glauben, dass „die Juden die Welt beherrschen wollen“.
Das ist nur eine Auswahl aktueller Agenturschlagzeilen zum Thema Antisemitismus – allein in den paar Tagen seit dem 1. November. Der älteste Hass Europas ist 2018 wieder erstarkt und in gewalttätigen Ausbrüchen eskaliert. Nicht nur, dass in Deutschland, Polen, Ungarn Rechtsradikale marschieren. In Großbritannien lag die Labour-Partei um Jeremy Corbyn monatelang in heftigem Streit mit sich selbst, weil sich der Parteichef nicht dazu durchringen konnte, entschlossen gegen antisemitische Äußerungen in den eigenen Reihen vorzugehen. Im Frühjahr erschütterte der antisemitische Mord an der 85-jährigen Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll die französische Gesellschaft.
Und nicht erst, seit jüngst in Pittsburgh ein antisemitisch getriebener Attentäter elf Gläubige in einer Synagoge erschoss, wird über Gründe und Eskalationsformen des „neuen“ Antisemitismus viel diskutiert. Dabei ist der Terminus gar nicht besonders überzeugend: „Es hört einfach nie auf“, glaubt Judah Samet. Verständlich vor dem Hintergrund seiner Biografie: Als Sechsjähriger musste der heute 80 Jahre alte Amerikaner auf dem Transport nach Auschwitz mitansehen, wie ein Soldat auf seine Mutter anlegte, nun hat er das Attentat in Pittsburgh knapp überlebt. „Juden können sich nie wirklich sicher fühlen“, machte er sich danach in einem CNN-Interview verzweifelt Luft: „Als steckte der Antisemitismus in der DNA, nicht bloß in der DNA Amerikas, sondern der ganzen Welt.“
Hat Samet recht? Hat sich nichts geändert, zeigt der Antisemitismus 2018 die selbe widerliche Fratze wie vor 80 Jahren? „Die Menschen hassen gern, es liegt in ihrer Natur“, diagnostiziert der US- Holocaustforscher Paul Levine; in unsicheren Zeiten tauchten gelernte Stereotype wieder auf. „Antisemitismus basiert auf Neid, Angst, Hass, Verblendung“, glaubt auch der Historiker Christopher Clark, der dem Phänomen jüngst in einer Doku-Zweiteiler für den ZDF nachging.
Wer nach den Gründen für die zähe Haftung antisemitischer Stereotype sucht, kann aus einem Überangebot teils eng verschränkter Erklärungsmöglichkeiten auswählen: Rechtspopulismus, Nationalismus, die soziale Unsicherheit in Zeiten verstärkter Migrationsbewegungen, islamistische Hassreden, politische Eskalationsrhetorik von Viktor Orban bis Donald Trump gehören dazu. Zuletzt war auch zu beobachten, wie erstaunlich leichtläufig die (oft berechtigte) Israel-Kritik pro-palästinensischer Linker in antijüdische Ressentiments erodiert.
Immerhin: Weltweit gingen heuer Hunderttausende auf die Straße, um gegen antisemitische Übergriffe zu protestieren. Aber Moral, heißt es, verschleißt in kleinen Schritten. Insofern muss es zu denken geben, dass laut Bericht des Forums gegen Antisemitismus im Vorjahr 503 antisemitische Vorfälle in Österreich gemeldet worden, fast doppelt so viele wie 2014. Die deutsche Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel hat festgestellt, dass der Anteil antisemitischer Äußerungen auf Twitter, Facebook und in den Kommentarbereichen von Onlinemedien von rund sieben Prozent anno 2007 bis 2017 auf 30 Prozent und mehr gestiegen ist.
Um Hass besser zu verstehen, müsse man nicht die Gehassten, sondern die Hassenden studieren, zitiert Levine den schwedischen Historiker Hugo Valentin: Nach Jahrzehnten der Opferforschung sei es an der Zeit für mehr Täterforschung. Auch Bildungsoffensiven und Deeskalation durch verantwortungsvolle politische und religiöse Führer wird es zur Eindämmung antijüdischer Ressentiments brauchen. Insofern kann auch 80 Jahre nach den Novemberpogromen in Nazi-Deutschland nicht oft genug daran erinnert werden, dass jeder antisemitische Ausbruch letztlich als Angriff auf die liberale, demokratische Gesellschaft der Gegenwart zu werten ist.
Ute Baumhackl