Im laufenden Jahr sind laut Amnesty International über 60 Prozent der Geflüchteten und Migranten, die in Griechenland eintrafen, Frauen und Kinder gewesen. Sie leiden besonders an Übergriffen durch Schlepper und den sich verschlechternden Zuständen in den Flüchtlingslagern auf den Inseln, heißt es in einem am Freitag veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation.

"Wir können nicht zur Polizei gehen oder jemanden anderen um Hilfe bitten, weil wir 'illegal' sind", wird darin eine 27-jährige Frau zitiert, die mit ihren beiden jüngeren Schwestern aus Afghanistan geflüchtet ist. "Die Schmuggler nützen das aus." Eine weitere Geflüchtete erzählte Amnesty, einen Schlepper hätte für einen Flug nach Deutschland ihre Tochter gefordert.

Andere berichteten, sie seien sowohl von türkischen Sicherheitskräften und Einwohnern als auch von den eigenen Verwandten oder Mitreisenden belästigt worden. Eine Frau aus dem Iran schilderte Amnesty, ihr Ehemann habe sie zum Geschlechtsverkehr mit einem Schlepper gezwungen, als sie kein Geld mehr hatten, um die Reise fortzusetzen.

"Die europäischen Regierungen haben absolut versagt, sichere und legale Wege für Menschen auf der Flucht zu schaffen. Damit setzen sie insbesondere Frauen und Mädchen einer erhöhten Gefahr von Menschenrechtsverletzungen aus", kritisierte der Generalsekretär von Amnesty International, Kumi Naidoo, am Donnerstag in einer Aussendung.

Leidensweg ist in Europa nicht vorbei

Selbst wenn sie es nach Europa schafften, sei ihr Leidensweg noch nicht zu Ende, heißt es darin. "Tausende Menschen, darunter viele mit spezifischen Bedürfnissen - wie Menschen mit Behinderungen oder Babys - schlafen in Zelten außerhalb des offiziellen Lagers", berichtete Amnesty über die Situation in den fünf Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln, die für 6400 Menschen konzipiert worden seien. Insgesamt sind der Menschenrechtsorganisation zufolge dort aktuell mehr als 15.500 Menschen untergebracht.

Mangelhafte oder fehlende sanitäre Einrichtungen, zu wenig sauberes Trinkwasser, offen durch das Lager fließendes Abwasser sowie Ratten- und Mäuseplagen prägten das Leben in den Camps. "Alles hier ist schmutzig", erzählte eine Frau aus der Demokratischen Republik Kongo Amnesty. "Es ist unmöglich, sauber zu bleiben, und wenn wir unsere Periode haben, ist es sehr schwierig."

Griechischer Minister: "Lage ist grenzwertig"

Die Lage in den sogenannten Hotspots beurteilt selbst der griechische Migrationsminister Dimiris Vitsas als "grenzwertig". "Es wird jeden Tag schlimmer... Das Lager ist so überfüllt", sagte eine Frau im Camp Moria auf Lesbos, das laut Amnesty zweieinhalb Mal so viele Menschen beherbergt wie die vorgesehene Kapazität von 3.100. Mehrere schwangere Frauen hätten erzählt, dass sie auf dem Boden schlafen müssen und keinen oder nur minimalen Zugang zu pränataler Betreuung haben, heißt es in dem Bericht, für den über 100 Frauen und Mädchen interviewt wurden. Im vergangenen Monat soll eine Frau ohne medizinische Betreuung in einem Zelt im Camp Moria ein Kind zur Welt gebracht haben.

Die Frauen, die aus gefährlichen Orten überall auf der Welt geflohen sind, machen sich laut Amnesty in der schwierigen Situation gegenseitig Mut. "Sie entwickeln ein Gemeinschaftsgefühl und eine bemerkenswerte Stärke", sagte Naidoo. Die Betroffenen arbeiteten gemeinsam, auch oft mit griechischen Frauen, an Initiativen, die auf die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen zugeschnitten sind. So seien zum Beispiel Aufenthaltsräume für Frauen und Mädchen und Unterstützungsnetzwerke zum Informationsaustausch geschaffen worden.

Auch fänden die Betroffenen die Kraft, sich öffentlich gegen die Zustände zu wehren, so der Generalsekretär. Sie forderten von den europäischen Regierungen Unterstützung und Schutz für die geflüchteten Frauen und von den griechischen Behörden die Verbesserung der Aufnahmebedingungen auf dem Festland. Am Sonntag hatte die griechische Regierung angekündigt, 6000 Flüchtlinge aufs Festland bringen zu wollen, um die überfüllten Lager auf den Ostägäisinseln zu entlasten.

1000 Flüchtlinge auf Festland gebracht

Nach offiziellen Angaben waren bereits in der vergangenen Woche rund 1000 Migranten und Flüchtlinge aufs Festland gebracht worden. In den dortigen Lagern sind laut Angaben der Menschenrechtsorganisation etwa 45.500 Flüchtlinge und Migranten untergebracht. Drei Flüchtlingscamps, die als unbewohnbar eingestuft und geschlossen worden waren, seien aus Ermangelung anderer Unterkünfte ohne Verbesserungen wieder eröffnet worden, berichtete die Menschenrechtsorganisation.

Verantwortlich für die Situation in Griechenland macht Amnesty International das zwischen der EU und der Türkei im März 2016 geschlossenen Migrationsabkommen. Die EU hatte 2016 mit der Türkei vereinbart, dass alle Migranten, die aus der Türkei zu den Inseln übersetzen und kein Asyl in Griechenland bekommen, in die Türkei zurückgeschickt werden können. Die Bearbeitung der Asylanträge geht jedoch wegen Personalmangels nur mühsam voran. Da dies nicht in dem vorgesehenen Umfang stattfinde und wöchentlich Hunderte Menschen zusätzlich ankämen, würden Tausende Menschen monatelang auf griechischen Inseln unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, so Amnesty. Der erzwungene Stillstand habe große Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen.

"Ich war schockiert und verletzt"

"Fünf Tage lang mussten wir in einem Zelt bleiben: Männer, Frauen und Kinder. Die Leute bezeichneten es als das 'Gefängniszelt'", erzählte die Palästinenserin Amal der Menschenrechtsorganisation von ihrer Ankunft auf Lesbos. "Ich war schockiert und verletzt, wie eine Kriminelle behandelt zu werden", sagte sie. Die medizinische Statistikerin war vor Polizeigewalt aus Syrien vor Polizeigewalt geflohen. Sie hatte in der Hauptstadt Damaskus in einem Krankenhaus gearbeitet und gehörte zu jenen Mitarbeitern, die gegen die dortige Praxis, nur militärische Kriegsverletzte und keine zivilen Opfer zu behandeln, protestierte. Als einige ihrer Mitstreiter verhaftet wurden oder verschwanden, flüchtete sie.