Die deutsche Justizministerin Katarina Barley (SPD) hat nach den Krawallen in Chemnitz vor dem Entstehen rechtsfreier Räume gewarnt. "Es ist ein Grundprinzip des Rechtsstaates, dass Recht auch durchgesetzt wird", sagte Barley am Dienstag dem "Handelsblatt". Es dürfe nicht "der Anschein entstehen, dass es Räume und Orte gibt, in denen das nicht der Fall ist".
"Jagdszenen und Selbstjustiz"
Im konkreten Fall sieht Barley die sächsischen Behörden in der Pflicht. Straftaten müssten konsequent verfolgt werden, forderte die SPD-Politikerin. "Wer Menschen bedroht, angreift und gegen Minderheiten hetzt, muss unmittelbar zur Rechenschaft gezogen werden", sagte Barley. "Jagdszenen und Selbstjustiz darf es in Deutschland nie wieder geben."
Unterdessen warnte die Gewerkschaft der Polizei (GdP), die anhaltende Personalknappheit verstärke das Risiko einer zunehmenden Selbstjustiz. Der Staat sei dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen, sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow der "Neuen Osnabrücker Zeitung" von Dienstag. "Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehren und Selbstjustiz bauen."
Erschreckender Trend
Dies sei ein erschreckender Trend. Über die sozialen Medien könnten viele Menschen schnell mobilisiert werden, fügte Malchow hinzu. "Aus jeder Dorfschlägerei kann eine Hetzjagd werden." Dabei handle es sich um Straftaten, die hart zu ahnden seien.
Malchow gab dem Staat eine Mitschuld an dieser Entwicklung. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16.000 Stellen bei der Polizei habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien. Für Einsatzlagen wie in Chemnitz müssten sich stets mehrere hundert Kollegen in Reserve bereit halten, sagte der GdP-Vorsitzende. "Das ist vollkommen unrealistisch."
Personalmangel bei der Polizei
Den Bereitschaftspolizeien fehlten die notwendigen Einsatzkräfte. Die Polizei sei insgesamt nicht gut aufgestellt, "wir brauchen vor allem mehr Personal in der Fläche und in den Ermittlungsbereichen". Auch wenn die Politik inzwischen eine Wende vollzogen habe und bei Bund und Ländern 15.000 neue Stellen entstehen sollen, reiche das nicht und werde noch Jahre dauern. Die GdP fordert 20.000 neue Stellen.
"Der Staat hat beim Thema Innere Sicherheit versagt, weil er massiv Personal abgebaut hat. Dieses Problem ist nicht schnell lösbar", sagte Malchow.
Der Städte- und Gemeindebund kritisierte die von der Polizei eingeräumte Unterbesetzung. "Das ist ein schlechtes Zeichen für den starken Rechtsstaat", sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg dem "Handelsblatt" (Dienstag). "Hier müssen die Konzepte nachgebessert werden, damit sich derartige Ereignisse nicht wiederholen."
Seehofer schweigt
Die Grünen haben unterdessen neuerlich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) scharf kritisiert. "Dass Horst Seehofer sich seit Tagen zu den Vorfällen in Chemnitz ausschweigt, ist skandalös", sagte der Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz dem Nachrichtenportal "t-online" am Dienstag. "Seehofer muss sich fragen lassen, ob das Amt für ihn noch das richtige ist."
Seehofer habe mit seiner Äußerung von einer "Herrschaft des Unrechts" in der Flüchtlingskrise selbst die "Legitimationsbasis für einen rechten Mob" geschaffen, der meine, er müsse das Recht selbst in die Hand nehmen, sagte von Notz weiter.
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete forderte ein hartes Durchgreifen der Polizei. "Der Rechtsstaat muss die Oberhand gewinnen, mit ausreichend Polizisten vor Ort sein, entschlossen handeln und Stärke zeigen", sagte von Notz. Außerdem forderte er, Initiativen gegen rechte Gewalt stärker zu fördern.
Am Montag hatte bereits SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil Seehofer aufgefordert, sich zu den rechten Ausschreitungen in Chemnitz zu äußern. "Ich bin absolut der Meinung, dass Horst Seehofer als Bundesinnenminister sich äußern muss zu dem, was passiert", sagte Klingbeil. "Da kann er sich nicht wegducken."
Am Sonntag hatte es in Chemnitz Ausschreitungen und rechte Stimmungsmache gegeben, nachdem am Rande eines Stadtfests ein 35-jähriger Deutscher getötet worden war. Tatverdächtig sind ein Syrer und ein Iraker. Am Montagabend wurden bei Zusammenstößen rechts- und linksgerichteter Demonstranten in der sächsischen Stadt sechs Menschen verletzt.
Zehn Verfahren wegen Zeigens von Hitlergruß
Im Zusammenhang mit dem rechtsextremen Aufmarsch in Chemnitz hat die Polizei bisher zehn Ermittlungsverfahren wegen Zeigen des Hitlergrußes eingeleitet. Ermittelt wird wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, wie die Polizei am Dienstag mitteilte. Von mehreren Demonstranten seien die Personalien noch vor Ort festgestellt worden.
Insgesamt waren am Montagabend tausende rechts- und linksgerichtete Demonstranten in Chemnitz auf der Straße. Dabei kam es auch zu Zusammenstößen, es flogen unter anderem Feuerwerkskörper und Flaschen. Den Angaben zufolge wurden sechs Menschen verletzt.
Ein Polizeisprecher räumte ein, dass die Polizei mit dieser Zahl an Demonstranten nicht gerechnet habe. Die Chemnitzer Polizeipräsidentin Sonja Penzel hatte zuvor noch versichert, es seien "ausreichend Kräfte angefordert" worden und man sei auf die Einsatzlage "gut vorbereitet". Die Polizei will im Tagesverlauf zu den Geschehnissen Stellung nehmen.
Österreichs Kanzler Kurz verurteilt Ausschreitungen
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat die gewalttätigen Vorfälle verurteilt. "Ich bin erschrocken über die neonazistischen Ausschreitungen in #Chemnitz", schrieb der Chef der konservativen ÖVP am Dienstag auf Twitter. "Vorfälle wie diese sind auf das Schärfste zu verurteilen!".
Maas warnt vor "Gefährdung" des Zusammenhalts
Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) hat nach den ausländerfeindlichen Krawallen in Chemnitz vor einer Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewarnt. "Rechtsextremismus ist nicht nur eine Bedrohung von Menschen anderer Herkunft, sondern eine Gefährdung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaften", erklärte Maas am Dienstag in Berlin.
"Wir müssen alles tun, um Menschenwürde, Demokratie und Freiheit zu verteidigen, nicht nur in Chemnitz, sondern überall auf der Welt."
Maas verwies auf den 55. Jahrestag der berühmten Rede des schwarzen US-Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King ("Ich habe einen Traum") am Dienstag. "Heute vor 55 Jahren hielt Martin Luther King seine berühmteste Rede", erklärte der Außenminister. "Solange radikale Hetzjagden veranstaltet werden, haben wir noch viel zu tun, damit der Traum von Gleichberechtigung Wirklichkeit wird."