Ein zweiter Murenabgang in der Nacht auf Freitag hat die Lage im Bergsturzgebiet des Südbündner Bergells in der Schweiz zusätzlich verschärft. Die Gerölllawine traf eine weitere Siedlung und beide Kantonsstraßen. Personen mussten evakuiert werden. Verletzte gab es nicht.
Erstmals ergossen sich Geröllmassen über den Bergfluss Maira auf die andere Seite des Tales und unterbrachen dort die alte Kantonsstraße, die verkehrstechnisch der letzte Lebensnerv des Tales war. Die erneute große Mure blockierte das Bergell und verunmöglichte eine Durchfahrt durch das Tal auf der Straße. Die Verbindung in Richtung Italien sei dadurch für mehrere Tage unterbrochen, erklärte Anita Senti, Sprecherin der Kantonspolizei Graubünden, am Freitag auf Anfrage.
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Wasser sucht sich neue Wege
Die Geröllmassen füllten das Flussbeet der Maira, so dass sich das Wasser neue Wege sucht. Weitere Infrastrukturen werden dadurch bedroht. Ebenfalls unterbrochen wurde in der Nacht auf Freitag die Kantonsstraße im oberen Bergell, am Fuße des Malojapasses. Dort überschwemmte ein über die Ufer getretener Bach den Verkehrsweg auf mehreren hundert Metern.
Offenbar sind dort die Geröllmassen relativ gering. Die Einsatzkräfte hofften, die Straße am Freitagabend wieder freigeben zu können, wie Christian Gartmann, Sprecher des Führungsstabes der Gemeinde Bregaglia, sagte. Die Straßen durch das rund 30 Kilometer lange Bergell waren somit am Freitag an den beiden Enden des Tales unterbrochen. Das führte dazu, dass weite Teil des Bergells von der Außenwelt abgeschnitten wurden.
Dramatische Szenen
Der neuerliche Murgang füllte das teils entleerte Auffangbecken bei Bondo und traf die Siedlung Spino auf der anderen Talseite. Offenbar spielten sich dramatische Szenen ab. Bewohner von Spino flüchteten vor den herannahenden Massen aus Gestein und Schlamm. Zwei ältere Personen wurden in ihrem Haus eingeschlossen. Der Rega gelang es, sie in der Dunkelheit mit einer Winde zu retten und auszufliegen.
Gespenstisch wurde die Szenerie, als in Promontogno, dem Nachbardorf von Bondo, Stromleitungen zerstört wurden und das Licht ausfiel. Christian Gartmann sagte, die Situation sei für die Leute in der Nacht im Bergsturzgebiet "dramatisch gewesen mit dem Lärm und der Kulisse".
Das Ereignis hatte sich lautstark mit einem Gewitter und Gesteinsabbrüchen am Piz Cengalo angekündigt. Es folgte das Grollen der fließenden Mure durch das Seitental Val Bondasca, bevor die Geröllmassen das Haupttal bei Bondo erreichten.
Die Gefahr für die Siedlungen Bondo, Promontogno und Spino hat sich durch den neuerlichen Murenabgang verschärft. Und zwar deshalb, weil das Auffangbecken bei Bondo mit neuem Material gefüllt wurde. Damit fehlt bei einem weiteren Murgang eine zentrale Schutzvorrichtung.
Räumungsarbeiten waren am Freitag nicht möglich. Die Gefahr für die Einsatzkräfte war zu groß. Wie es weitergeht, wollte der Führungsstab Samstag früh entscheiden. Das Risiko weiterer Felsabbrüche und Murgänge bleibt derweil hoch.