Der Prozess um das A4-Flüchtlingsdrama hätte am Donnerstag in Kecskemet mit den Einvernahmen der beiden Hauptangeklagten fortgesetzt werden sollen. Die beiden weigerten sich jedoch auszusagen, ehe nicht ihre mitangeklagten Komplizen befragt worden sind. So wurden die bisherigen Einvernahmen verlesen, in der der Zweitangeklagte den mutmaßlichen Bandenboss belastete: "Er wurde zu gierig."
Der mutmaßliche Stellvertreter von Lahoo S., ein 30-jähriger Bulgare, berichtete in den im Zuge der Ermittlungen durchgeführten Einvernahmen, wie er mit dem 30-Jährigen zunächst gemeinsame Autogeschäfte getätigt hatte, bis ihn der Afghane im Juni 2015 fragte, ob er Schlepperfahrer aufstellen könnte. Täglich wären dann die angeheuerten bulgarischen Fahrer von Morahalom an der serbisch-ungarischen Grenze mit den Geschleppten nach Westeuropa gefahren. Alle zwei bis drei Tage wurden die Lenker ausgetauscht.
Die Schlepperfahrzeuge wurden mithilfe eines 52-jährigen Komplizen, eines bulgarisch-libanesischen Staatsbürgers, angekauft. Zunächst hätte der Bulgare als Käufer eingetragen werden sollen. Da er jedoch in Bulgarien gerichtlich gesucht wurde, trat seine Freundin offiziell als Käuferin auf. Die Autos wurden so lange eingesetzt wie nötig. Wenn die Fahrzeuge unterwegs kaputt wurden, ließ man sie einfach mit den Flüchtlingen zurück, die meisten in Österreich. Jede Tour wurde von einem sogenannten Vorläuferwagen begleitet, dessen Lenker nach der Polizei Ausschau hielt. Viele Schlepperfahrer wurden aber auch von der Polizei erwischt.
Zunächst wurden Klein-Lkw dafür angeschafft, später Lkw, die 30 bis 35 Personen transportieren konnten. Am Ende wurden bis zu 100 Flüchtlinge auf die Ladeflächen gepfercht. Im August 2015 endete eine solche Fahrt an der A4 tödlich. Der 30-jährige Afghane "wurde zu gierig, deshalb sitzen wir hier", sagte der mitangeklagte Bulgare in der Einvernahme.
Als in der Nacht auf den 26. August 2015 die 71 Flüchtlinge nach Westeuropa gebracht werden sollten, half der 30-jährige Zweitangeklagte beim Einsteigen. Danach verbrachte er die Nacht mit seiner Freundin in Kecskemet, bis ihn der Fahrer des Begleitfahrzeugs anrief und von den Problemen berichtete. Er informierte den afghanischen Komplizen. Der Bandenboss riet, den Flüchtlingen Wasser zu geben. Aus Angst vor der Polizei fuhren der Lkw-Lenker und der Begleitfahrer aber einfach weiter, ohne die Ladetür zu öffnen. Alle 71 Flüchtlinge erstickten.
Die beiden Bandenbosse hätten die Fahrer dann nicht mehr erreicht. Diese hätten sich erst wieder gemeldet, als sie bereits nach Bratislava geflüchtet waren. Sie behaupteten, von der Polizei verfolgt worden zu sein und den Lkw bei Parndorf abgestellt zu haben. Daraufhin meinte der Afghane, dass dann die Polizei die Flüchtlinge ja gefunden und aus dem Lkw befreit hätte, sagte sein Stellvertreter bei der Einvernahme. Doch dem war nicht so - erst einen Tag später, am 27. August 2015, entdeckten österreichische Beamte das Fahrzeug mit den Leichen.
Vom tragischen Ende der Schlepperfahrt erfuhr der Zweitangeklagte aus dem österreichischen Fernsehen. Der 52-jährige Komplize rief ihn an und berichtete von den Toten an der A4.
Der mutmaßliche Bandenboss will mit den Schlepperfahrten gar nichts zu tun haben. "Ich lebe in Ungarn und beschäftige mich mit Autohandel", sagte der 30-jährige Afghane den Ermittlern. Er würde Leuten Geld geben, die für ihn in Österreich und Deutschland gebrauchte Fahrzeuge kaufen, die er in Bulgarien und in seiner Heimat verkaufe. Konfrontiert mit den Abhörprotokollen, in denen er seine Komplizen angewiesen haben soll, die Lkw-Tür nicht zu öffnen, obwohl die Flüchtlinge darin verzweifelt schrien, verweigerte er die Aussage.
Elf Angeklagte
Bei dem Prozess in Kecskemet sind insgesamt elf Männer angeklagt. Zehn von ihnen stehen vor Gericht, ein weiterer ist noch auf der Flucht. Sie müssen sich u.a. wegen qualifizierten Mordes und Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung verantworten.
Die Bande hat laut Anklage mehr als 1.200 Menschen illegal nach Westeuropa geschleppt. Dabei kassierte allein der Bandenchef mehr als 300.000 Euro. Ab Juni 2015 schmuggelte die Gruppe verstärkt Flüchtlinge von Serbien über Ungarn nach Österreich bzw. Deutschland. 31 solcher Fahrten konnte die Staatsanwaltschaft in Ungarn nachweisen.
Der vorsitzende Richter Janos Jadi setzte bereits weitere Prozesstermine fest. Neben morgen, Freitag, und dem 29. und 30. Juni, finden am 5. und 6. Juli sowie am 22., 23. und 24. August Verhandlungen statt.