Jedes Jahr kurz vor Ende des Winters erreicht das Meereis der Arktis seine größte Ausbreitung - doch die Eisdecke war bei einer Messung zu diesem Zeitpunkt noch nie so klein wie 2017. Sie habe sich nur auf 14,42 Millionen Quadratkilometer ausgebreitet, teilten die US-Raumfahrtbehörde NASA und die Klimabehörde NSIDC (National Snow and Ice Data Center) am Mittwoch (Ortszeit) mit.
Das sei die geringste Maximal-Ausdehnung seit Beginn der Satellitenmessungen vor 38 Jahren, hieß es. Bereits in den beiden vergangenen Jahren waren Negativrekorde aufgestellt worden. Ursache für die geringe Ausbreitung 2017 seien ein warmer Herbst und Winter in der Arktis mit Temperaturen rund 2,5 Grad Celsius über dem Durchschnitt gewesen. Messungen eines Satelliten der Europäischen Raumfahrtagentur ESA ergaben zudem, dass das Eis geringfügig dünner war als in den vergangenen vier Jahren.
Viel zu warm
"Ich beobachte das Wetter in der Arktis seit mehr als 35 Jahren und so etwas wie das, was wir in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben, habe ich noch nie auch nur ansatzweise gesehen", sagte NSIDC-Direktor Mark Serreze. Auch die Weltwetterorganisation (WMO) in Genf hatte erst am Montag betont, wie außergewöhnlich die Wetterdaten der Arktis in den vergangenen Monaten waren. Mindestens drei Mal sei es zu so etwas wie Hitzewellen gekommen. Auf dem Höhepunkt des Winters und der eigentlichen Gefrierperiode habe es Tage mit Temperaturen fast am Schmelzpunkt gegeben.
Das wiederum habe den polaren Jetstream - einen der Windströme, die sich in großer Höhe um den Planeten ziehen - und damit das Wetter global beeinflusst. "Wir sehen bemerkenswerte Veränderungen auf dem Planeten, die die Grenzen unseres Verständnisses des Klimasystems erreichen", sagte der Direktor für Klimaforschung, David Carlson. "Wir betreten hier absolutes Neuland."
Neuer Negativrekord
2015 hatte sich die Meereisdecke der Arktis auf 14,517 Millionen Quadratkilometer ausgebreitet, 2016 auf 14,52 Millionen. Die maximale Ausbreitung der Meereisdecke wurde am 7. März gemessen, seither schmilzt das Eis mit Beginn der wärmeren Jahreszeiten wieder. Die minimale Ausbreitung wird jedes Jahr meist im September gemessen.
Die Daten der vergangenen Wochen hatten bereits auf einen neuen Negativrekord hingewiesen. Die von Meereis bedeckten Flächen der Arktis und der Antarktis waren im Jänner so klein wie nie zuvor in diesem Monat seit Beginn der Messungen 1979, hatte die US-Klimabehörde NOAA mitgeteilt. In der Arktis lag die durchschnittliche Ausbreitung der Meereisdecke demnach um rund 9 Prozent unter dem Durchschnitt von 1981 bis 2010, in der Antarktis sogar rund 23 Prozent.
Forschungsstation musste schließen
Die antarktische Forschungsstation "Halley VI" hatte im Jänner wegen Rissen im Eis der Umgebung schließen müssen. Die aus acht blauen und roten Modulen bestehende Einrichtung wurde zu einem 23 Kilometer weiter östlich liegenden Platz auf dem Brunt-Schelfeis gebracht. In der Antarktis bildet sich zudem gerade einer der größten Eisberge, die Forscher bisher registriert haben. Mit rund 5000 Quadratkilometern wird er doppelt so groß sein wie das Saarland. Der Koloss löst sich vom Larsen-C-Schelfeis.
Schelfeise sind auf dem Meer schwimmende Eisplatten, die von Gletschern gespeist werden und mit ihnen noch verbunden sind. Zwar ist das Abbrechen riesiger Eisblöcke, das sogenannte Kalben, ein natürlicher Prozess - Wissenschafter sind aber dennoch alarmiert: In den letzten zwei Jahrzehnten sind sieben Schelfeise von insgesamt zwölf an der Antarktischen Halbinsel zerfallen oder sehr stark zurückgegangen. Experten sehen einen Zusammenhang mit der Erderwärmung. Sie vermuten, dass Schmelzwasser an der Oberfläche die Schelfeise instabil werden lässt.
Im Fachmagazin "Science Advances" hatten Wissenschafter vor einigen Tagen berichtet, dass sich die Ozeane deutlich schneller als befürchtet erwärmen. Lange sprachen Forscher von der "fehlenden Wärme", der "missing heat", weil sich die Meere weltweit scheinbar weniger aufheizten als nach Modellen anzunehmen. Ursache war aber offenbar vor allem der Mangel an zuverlässigen Daten über die Wassertemperaturen.
Der aktuellen, unter anderem auf Satellitendaten beruhenden Analyse zufolge erwärmen sich die Meere rund 13 Prozent schneller als bisher gedacht - und der Prozess beschleunigt sich zunehmend. 1992 heizten sich die Ozeane demnach schon fast doppelt so schnell auf wie 1960, heißt es in "Science Advances". Die Meere weltweit sind mit Blick auf den Klimawandel ein immens bedeutsames Speichermedium: Nach Schätzungen gehen mehr als 90 Prozent der Extrawärme in die Ozeane, nur ein kleiner Teil wärmt die Luft.