Die Überlebenden und Retter im Zeltlager von Sant'Angelo, dem größten Unterschlupf für Erdbebenopfer der Stadt Amatrice, kommen kaum zur Ruhe. Dennoch machen sich die Menschen, die durch das Erdbeben obdachlos geworden und in jetzt in dem Zeltlager hausen, gegenseitig Mut.
Temperaturen um den Nullpunkt
Die lange Nacht beginnt für die Helfer gegen 19:30 Uhr. Sie servieren den Überlebenden Pasta mit Thunfisch und Oliven. Wer will, bekommt auch Schokolade und Kekse. Krankenpfleger ziehen durchs Lager und messen Senioren den Blutdruck. Vor einem großen Zelt des Zivilschutzes stehen mehrere Menschen Schlange. Hier werden Decken und warme Kleidung verteilt. Ein seltsames Wüstenklima herrscht in diesen letzten Tagen im August in der zerstörten Bergortschaft am Apennin. Sengende Hitze mit fast 30 Grad tagsüber und klirrende Kälte, sobald die Sonne hinter den Bergen verschwindet und feuchte Luft eintrifft. Das Thermometer sinkt nachts auf fünf Grad.
Lucio kommt aus der Provinz Frosinone südlich von Rom und gehört der katholischen Organisation "Misericordia" (Barmherzigkeit) an. Stundenlang verstaut er Lebensmittel, Decken, Matratzen und Spielsachen in einem improvisierten Lagerraum. "Die Solidaritätswelle, die dieses Erdbeben ausgelöst hat, ist enorm. Lebensmittel sind aus ganz Italien eingetroffen. Es ist fast schon zu viel", berichtet der ehrenamtliche Helfer. Die schlaflosen Nächte fürchtet Lucio nicht. "Ich bin es gewohnt. Schließlich war ich wochenlang auch in L'Aquila im Einsatz. Erdbeben sind leider für uns Mitglieder des Zivilschutzes keine Seltenheit", berichtet er.
"Ich fürchte mich vor den Nachbeben"
Gegen 23.00 Uhr versammeln sich schlaflose Menschen in der Nähe der Lagerküche. Hier wird Kamillentee ausgeschenkt, die Zeltlager-Bewohner scharen sich vor einem großen Fernsehapparat, auf dem Bilder der Verwüstungen zu sehen sind. Obdachlose machen sich gegenseitig Mut und hoffen, bald in ihre Häuser zurückkehren zu können.
"Mein Haus ist zwar nur leicht beschädigt worden, ich will aber die Nacht nicht allein in meiner Wohnung verbringen, ich fürchte mich vor den starken Nachbeben", berichtet der 25-jährige Fulvio Di Gianvito. "In einem Zelt kann mir nichts passieren und ich bin mit anderen Menschen zusammen. Die erste Nacht nach dem Erdbeben habe ich in meinem Auto geschlafen, im Zeltlager ist es aber besser."
"Alle Häuser in der Umgebung sind eingestürzt"
Daniela Di Giacomo verbringt die Nacht mit einer schwarzen Katze in einem kleinen Käfig an der Seite. "Die Katze heißt Jäger, sie gehört meiner Freundin Silvia, die beim Einsturz ihres Hauses gestorben ist. Ich betreue die Katze, bis Silvias Kinder sie abholen", erzählt Di Giacomo, die mit ihrer 90-jährigen Mutter in Amatrice lebt.
Ihr Haus ist zwar beschädigt, steht aber noch. "Wir haben Glück gehabt. Alle Häuser in der Umgebung sind eingestürzt. Ich habe meine Mutter zu Verwandten nach Rom schicken können. Ich bleibe, bis ich noch einige Kleider und Medikamente aus meiner Wohnung holen kann", sagt die Frau mit den grau-melierten Haaren.
Nachbeben nehmen kein Ende
Nach Mitternacht wird es still im Zeltlager. Die Temperatur sinkt immer tiefer. In jedem Zelt schlafen sieben bis zehn Menschen. Nachtsüber schwankt der Boden immer wieder. Zwei Nachbeben sind deutlich zu spüren, leichtere folgen. Mit der Zeit überkommt die Menschen das seltsame Gefühl, als ob der Boden ständig unter den Füßen schaukeln würde, wie auf einem Schiff.
Gegen 6.00 Uhr wird es allmählich hell. Die Helfer sind schon voll im Einsatz und bereiten das Frühstück vor. Vor den spärlichen Toiletten bilden sich wieder Schlangen. Gegen 6.30 bebt die Erde wieder stark. "Was für ein Knall! Ein Teil eines Gebäudes in Sant'Angelo ist eingestürzt", sagt Lucio. Die Feuerwehrleute lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich wird es heute noch mehrere Nachbeben geben. Die Sonne lässt sich blicken und es wird allmählich wärmer. Ein neuer Tag beginnt im Erdbebengebiet Amatrice.
Micaela Taroni/APA