Ein Spezialeinsatzkommando hat in der Nacht auf Sonntag den zwölfjährigen Paul aus einer Dachgeschosswohnung in Düsseldorf befreit. Der Bub aus Gunzgen im Schweizer Kanton Solothurn wurde zu dem Zeitpunkt bereits seit einer Woche vermisst. Seinen mutmaßlichen Entführer, den 35 Jahre alten Hilfskoch Werner C., hatte Paul zuvor über ein Internetspiel kennengelernt. Was genau in der Wohnung in Düsseldorf geschehen ist, klärt die Polizei nun ab. Ziemlich sicher dürfte es zu sexuellen Übergriffen gekommen sein. Laut „Bild“ soll C. bei der Stürmung der Wohnung mit dem Buben nackt im Bett gelegen haben. Gegen C. wird nun wegen sexuellen Kindesmissbrauchs und Freiheitsberaubung ermittelt.

Paul scheint sein Verschwinden bewusst geplant zu haben. Er hatte mindestens einen Monat lang Kontakt zu dem Deutschen. Er soll auch eine Strichliste geführt und die Tage bis zu seinem Verschwinden gezählt haben. Seine Klassenkameraden soll der Bub eingeweiht haben, dass er vorhabe wegzugehen.

Paul war ein begeisterter „Minecraft“-Spieler – ein harmloses Aufbauspiel, bei dem aus Blöcken eine eigene Welt erschaffen wird, eine Art digitales Lego. Im und rund um das Spiel existieren viele Spezialforen, Fachportale und Server, über die sich eine Vielzahl von Spielern zusammenschließen, um sich auszutauschen. Paul war auf diesen Plattformen sehr aktiv, hatte zudem Profile, in denen er persönliche Daten preisgab.

Er gab an, täglich bis zu fünf Stunden online zu zocken. Die meisten Spielfiguren in „Minecraft“ tragen Fantasienamen, sind also anonym. Im Fall von Paul überrascht es, dass er mit seinem Klarnamen aufgetreten ist und präzise Angaben zu Alter und Wohnort gemacht hat.

Obwohl Paul eigentlich noch zu jung dafür war, versuchte er "Junior-Supporter" für das Spiel zu werden, um dafür zu sorgen, dass "die Serverregeln eingehalten werden und das unter den Siedlern ein ordentliches Klima herrscht.... Ich würde mich freuen, wenn ihr mich aufnehmen würdet. Ich weiss ich bin ein Jahr zu jung, aber ich will mich trotzdem bewerben", schreibt er. Aufgrund seines Alters wurde Paul von mindestens einer dieser Plattformen abgelehnt. Möglicherweise war das auch einer der Gründe warum Paul sehr empfänglich war für die Gespräche mit seinem zukünftigen Entführer: Auch Werner C. verbrachte viel Zeit beim Online-Spielen. Laut “Blick“ soll er Hunderte von Stunden in „Minecraft“ investiert haben, um ausschließlich Buben kennenzulernen, denn mit Mädchen kommunizierte er nicht.


Der Fall steht exemplarisch für Herausforderungen und Gefahren, die auf junge Menschen im Netz lauern. Auch bei Kinderspielen sind nicht nur harmlose Spieler unterwegs. Beim sogenannten "Grooming" erschleichen sich (männliche) Erwachsene im Internet das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen – mit dem Ziel der sexuellen Belästigung bzw. des Missbrauchs. Teilweise auch selbst als Jugendliche getarnt, wählen die Täter oft das Zweiergespräch, wie es in den meisten Chats angeboten wird und bauen ein freundschaftliches Verhältnis auf. Oft bleiben diese Annäherungsversuche im virtuellen Raum – aber nicht immer.

Das sagt die Psychiaterin

Psychiaterin und Autorin Martina Leibovici-Mühlberger sagt, dass sich Kinder sehr wohl der Gefahren bewusst seien, denen sie sich im Internet aussetzen – allerdings nur in der Theorie. In der realen Situation seien sie dann oft zu vertrauensselig. Im aktuellen Fall Paul sieht die Psychiaterin eine tiefe Kommunikations- und Vertrauenslücke zwischen dem Buben und seinen Eltern: Einem Kind, das eine „normale Beziehung“, ein Vertrauensverhältnis zu seinen Eltern habe, würde es sogar seltsam vorkommen, den Eltern ein solches Treffen zu verbergen, meint Leibovici-Mühlberger. Und wer würde seinem 12-Jährigen erlauben, sich alleine mit einem Erwachsenen, den er aus dem Netz kennt, zu treffen?

Martina Leibovici-Mühlberger  ist Autorin und Psychiaterin in Wien
Martina Leibovici-Mühlberger ist Autorin und Psychiaterin in Wien © KK

Vertrauensverhältnis aufbauen und erhalten

Ein wichtiger Punkt sei es, möglichst früh anzufangen, mit Kindern über diese Probleme zu reden, so die Ärztin. Man müsse ihnen klarmachen, dass es auch im Internet gefährliche Situationen gibt. „Das Ganze gehört eingebettet in eine Erziehung, die darauf abzielt, aus unseren Kindern bewusste User und nicht unbewusste Konsumenten zu machen“, fordert Leibovici-Mühlberger. Denn ab einem gewissen Alter werden Kinder ihren Eltern nicht mehr alles erzählen. Auch stellen technische Hilfsmittel wie Filterprogramme, wie sie für junge Kinder sinnvoll sind, früher oder später keinen Schutz mehr dar. Darum sei es umso wichtiger, dass Kinder früh lernen, nicht alles für bare Münze zu nehmen und eine gewisse Portion Skepsis an den Tag zu legen. Gemeinsame Erfahrungen beim Surfen erleichtern es auch, in der Zukunft sowohl positive als auch negative Onlineerlebnisse zu teilen.

Ein zweiter wichtiger Ansatz sei es, das Internet zu begrenzen, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Eine Bildschirmzeit von maximal zwei Stunden solle bei Kindern nicht überschritten werden, so Leibovici-Mühlberger. Und auch Eltern sollten mit gutem Beispiel vorangehen. Es spreche aber nichts dagegen, wenn Spiel- oder Surf-Sessions gelegentlich etwas länger dauern. Sobald jedoch der Computer zur einzigen Freizeitbeschäftigung wird, sollten Alternativen angeboten werden.

Das laut Leibovici-Mühlberger Wichtigste: Reden. Und zwar nicht nur darüber, was das Kind in der Schule erlebt hat, sondern auch darüber, wo und wie es online aktiv war, sich zeigen lassen, welche Seiten, Spiele, Foren es mag und nutzt. Denn der schwarze Mann existiert – er hat nur seine Gestalt geändert, es gibt ihn jetzt auch im Internet.