Ich erfuhr tanzend vom Tod Osama Bin Ladens. Es war der 1. Mai 2011. Kurz nach 9 Uhr abends vibrierte mein Blackberry in der linken Hosentasche. Als ich auf das Display blickte und die knappe Nachricht meines Kollegen John Kluge las ("Bin Laden von amerikanischen Spezialeinsatzkräften in Pakistan erschossen"), war es so, als ob der DJ im Le Bain Tanzclub, der im Standard Hotel im trendigen Meatpacking Bezirk im unteren Teil Manhattans liegt, abrupt die Musik abgedreht hätte.

Meine Beine spürten den Beat der House Music plötzlich nicht mehr. Ich war benommen. Schnell verließ ich die Tanzfläche. Instinktiv zog es mich zu einem der Fenster auf der Südseite des Clubs. Hier, vom letzten Stock des Standard Hotels, konnte ich das gesamte südliche Ende Manhattans einsehen. Unweigerlich fokussierte sich mein Blick auf das Gebäude, das schon jetzt, obwohl noch unvollendet, die Skyline dort dominierte: das One World Trade Center. An der gleichen Stelle stand bis zum 11. September das World Trade Center. "Ground Zero", wie der Platz in New York auch genannt wird. Als ich auf die unfertige Fassade des Wolkenkratzers blickte, drehten sich meine Gedanken im Kreis.



Ich spürte das Verlangen etwas mit dieser eben erhaltenen Nachricht zu tun. Soll ich den Tod Bin Ladens dem DJ mitteilen, oder etwa dem Barmann, der mir noch vor zehn Minuten den letzten Gin Tonic gemixt hatte? Ich blickte über meine Schulter. Das junge Publikum, 20-bis 30-Jährige aus allen Ecken der Welt, viele spärlich bekleidet (gleich neben der Tanzfläche gibt es ein kleines Schwimmbecken), tanzte unbekümmert weiter. Dann kam die Eingebung. Es gab nichts Spezielles zu tun. Um Bin Laden auch im Tod noch eines auszuwischen würde ich das machen, was den ihm so verhassten dekadenten Charakter New York Citys (und des gesamten Westens) wohl am besten unterstrich: ausschweifend feiern. Und so geschah es dann auch.

Kurz vor Mitternacht am 1. Mai hielt der damalige Präsident der USA, Barack Obama, eine Fernsehansprache, in der er publik machte, dass Bin Laden in einer Kommandoaktion getötet worden war. Das erfuhr ich via einer CNN Eilnachricht, während ich mit einer Brasilianerin tanzte. Doch erneut schien diese Nachricht niemanden in Le Bain erreicht zu haben. Vielleicht war ich auch der einzige News-Junkie hier. Erst als ich stark angeheitert in den frühen Morgenstunden zu Fuß in mein kleines Apartment ins West Village spazierte, merkte ich, dass vermehrt amerikanische Flaggen vor einigen Geschäften und Fensterläden privater Wohnungen hingen. In einem Deli kaufte ich mir eine Flasche Wasser. Hinter dem Tresen lief ein Fernseher, der Szenen auf dem Times Square und Ground Zero zeigte.

Tausende New Yorker hatten sich in der Nacht spontan dort zu Feiern zusammengefunden. Hunderte amerikanische Fahnen waren zu sehen. Immer wieder wurde die amerikanische Hymne gespielt. Besonders New Yorks Feuerwehren schienen im Freudentaumel. Bilder von Feuerwehrleuten, strahlend lächelnd mit gehobenen Daumen, waren am Bildschirm zu sehen. Ich nahm mir vom Deli eine Ausgabe des New Yorker Boulevardblatts "Daily News" mit. "Verrotte in der Hölle", stand auf der Titelseite neben einem Bild Bin Ladens. Eine geballte Ladung Hass, die ich förmlich in der ganzen Stadt spüren konnte. Das vergilbte Exemplar liegt jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, neben mir.

Der Freudentaumel über den Tod eines Menschen, selbst eines Massenmörders wie Bin Laden, stieß mir damals merklich auf. Als ich nach kurzem, unruhigem Schlaf in meinem Apartment in der Christopher Street erwachte, setzte ich mich zugleich hin und verfasste einen Text. Der Tod Bin Ladens schien eine strategische Belanglosigkeit im sogenannten Krieg gegen den Terror, schrieb ich. Ich versuchte, eine etwas unfeine Analogie zum Tod des Lakota-Anführers "Crazy Horse" zu ziehen, der für das größte Trauma der USA im späten 19. Jahrhundert verantwortlich war: die Vernichtung des 7. US Kavallerieregiments unter George Custer. „Crazy Horse” wurde nach dem siegreichen Ende des amerikanischen Feldzuges von einer Gefängniswache unter mysteriösen Umständen erstochen.

Viel wichtiger erschien mir aber, den New Yorkern die Worte Edith Cavells zu vermitteln. Ein paar Wochen zuvor war ich in London in der Nähe des Trafalgar Squares auf die Statue dieser britischen Krankenschwester gestoßen, die 1915 von deutschen Soldaten wegen angeblichen Hochverrates erschossen worden war. Ihre letzten Worte: „Patriotismus ist nicht genug. Ich darf weder Hass noch Bitterkeit gegen irgendjemanden hegen.” Bin Laden sollte man nicht hassen. Der Artikel wurde nie publiziert. Meine Gedanken schienen mir unangebracht. Ich kannte niemanden, der am 11. September sein Leben lassen musste; nach zwei Jahren in der Stadt fühlte ich mich auch noch nicht als New Yorker. Als Außenstehender ist es immer leicht, die Stimme der Vernunft zu geben.

Heute, über ein Jahrzehnt später, sehe ich den Freudentaumel und die Explosion an Emotionen in jener Nacht in einem ganz anderen Licht. Damals wurde nicht so sehr der Tod Bin Ladens gefeiert. Vielmehr wurde der Anfang des Endes des kollektiven Traumas der Stadt durch die Anschläge am 11. September zelebriert. So brutal es klingt: Erst durch den Tod des Terroristen konnte der wirkliche Heilungsprozess für die Stadt beginnen. Es war ein Abschluss. Ein Tröpfchen alttestamentarischer Gerechtigkeit, die es mitunter in der Geschichte benötigt.

Der 10. Jahrestag der Terrorattacken, der im selben Jahr stattfand, war im Vergleich dazu ruhig. Ich war an jenem 11. September 2001 wieder in meinem Deli um die Ecke und sah die Live-Übertragung der jährlichen Gedenkstunden am Ground Zero, wo die Namen aller Opfer verlesen wurden. Der Stadt war dieser Jahrestag aber relativ egal. In der U-Bahn schien es niemanden zu kümmern. Auch nicht in der Arbeit. In den Jahren darauf trat der 11. September dann auch merklich immer mehr in den Hintergrund des kollektiven Bewusstseins der New Yorker. Das ist eine mehr als natürliche Entwicklung. Das Pendant des 11. September in den 1940er und 1950er Jahren war der 7. Dezember 1941, der japanische Angriff auf Pearl Harbor; ein Tag, der laut dem damalige Präsidenten Franklin D. Roosevelt auf ewig als ein „Tag der Schande” in die Geschichte eingehen wird.

Heute wird der 7. Dezember, obwohl offiziell ein Volkstrauertag in den USA, so gut wie gar nicht mehr begangen. Früher oder später wird dies wohl auch mit dem 11. September passieren. „Die Alten sind vergesslich”, schreibt Shakespeare in Heinrich V. Das langsame Vergessen der Terroranschläge hat in jener Mai-Nacht 2011 begonnen. Und damit aber auch unweigerlich der kollektive Heilungsprozess der Weltmetropole New York.