Erst kam die verheerende Regen- und Schlammflut, dann die Flut der Empörung. Weit mehr als 100.000 Menschen protestierten am Wochenende in der spanischen Katastrophenregion Valencia gegen die verantwortlichen Politiker, denen vorgeworfen wird, die Bevölkerung zunächst nicht vor dem Hochwasser gewarnt und später auch keine ausreichende Hilfe geschickt zu haben. Bei der Jahrhundertflut am 29. Oktober starben über 220 Menschen.
„Rücktritt, Rücktritt!”, riefen die Menschen. „Ihr seid Mörder!” Und: „Warum habt ihr uns nicht gewarnt?” Der Zorn richtet sich vor allem gegen die konservative Regierung der Urlaubsregion Valencia. Ihr wird vorgehalten, erst zwölf Stunden nach Beginn der sintflutartigen Regenfälle die Bevölkerung aufgefordert zu haben, ihre Häuser nicht zu verlassen und nicht Auto zu fahren. Zu dieser Zeit stand vielen Menschen das Wasser bereits bis zum Hals, viele Ortschaften waren schon überschwemmt und Hunderte von Autos waren im Wasser versunken.
Inzwischen weiß man, warum es so lange dauerte, bis die politische Führung am Tag der Katastrophe reagierte, die am Morgen des 29. Oktobers begann: Die für den regionalen Katastrophenschutz zuständige Innenministerin Salomé Pradas wusste nicht, dass man über alle Handys eine Warnmeldung an die Bürger verschicken kann. Ihr Chef, der regionale Ministerpräsident Carlos Mazón, verbrachte den Katastrophentag bei einem langen „Arbeitsessen”, wie er es nannte – und zwar mit einer hübschen Journalistin.
Auch der sozialdemokratische Premier Pedro Sánchez musste sich heftige Kritik gefallen lassen. Vor allem, weil er trotz offensichtlicher Inkompetenz und Überforderung der valencianischen Regionalregierung nicht den nationalen Notstand ausrief. Damit hätte die spanische Staatsregierung automatisch das Kommando bei der Katastrophenbewältigung übernommen. Sánchez hatte zwar 20.000 Soldaten und Polizisten als Helfer geschickt und finanzielle Hilfe zugesagt, die Koordination des Einsatzes aber der Regionalregierung überlassen.
Am Rande des Massenprotests am Samstagabend kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei als kleine radikale Gruppen Feuerwerkskörper und Flaschen warfen. Dabei wurden 31 Menschen verletzt, vier Personen wurden festgenommen. Bereits vor einigen Tagen war es im Katastrophengebiet zu Gewalt gekommen, als Demonstranten den spanischen König Felipe und Königin Letizia mit Steinen und Schlamm bewarfen und beschimpften. Spaniens Premier Sánchez war damals mit einem Stock geschlagen worden. Der Besuch des Königspaars und des Premiers wurde daraufhin abgebrochen.
Morgen will König Felipe erneut in die Unglücksregion reisen, um sich über den Fortgang der Aufräumarbeiten zu informieren. Wird es dann erneut Unruhen geben? Geplant sind unter anderem ein Besuch der Militäreinheiten, die in den mehr als 70 betroffenen Ortschaften im Hinterland Valencias der Bevölkerung helfen. Königin Letizia, deren Leibwächter beim letzten Besuch in Valencia verletzt worden war, kommt dieses Mal aber nicht mit. Sie will stattdessen mit Vertretern des Roten Kreuzes und anderen Hilfsorganisationen in Madrid besprechen, wie den unzähligen Flutopfern besser geholfen werden kann.
Bei der Katastrophe vor nahezu zwei Wochen waren im westlichen Hinterland der Großstadt Valencia innerhalb weniger Stunden mehr als 500 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen – diese Regenmenge fällt normalerweise in einem ganzen Jahr. Dadurch bildeten sich in trockenen Flussbetten reißende Ströme, die viele Dörfer und Vorstädte im Westen und Süden Valencias überschwemmten. 212 Menschen wurden allein in der Provinz Valencia getötet, acht weitere Todesopfer gab es in Nachbarregionen. 41 Menschen werden noch vermisst. Zehntausende Häuser und Autos wurden von den Fluten zerstört.
Wegen der immer noch vielerorts chaotischen Verhältnissen raten mehrere europäische Regierungen weiterhin von touristischen Reisen in das spanische Katastrophengebiet ab. In den Reisehinweisen des deutschen Auswärtigen Amtes in Berlin heißt es: „Sehen Sie derzeit von nicht notwendigen touristischen Reisen in die Provinz Valencia ab.” Ähnlich äußerte sich das Außenministerium in Wien. Die südlich von Valencia liegende Provinz Alicante, zu der die im deutschsprachigen Raum sehr beliebte Costa Blanca gehört, ist aber von der Flutkatastrophe nicht betroffen.
Ralph Schulze, Madrid