Von Erdrutschen verschüttete Häuser und Dörfer, von den Hochwasser- und Schlammmassen unterspülte Bahndämme und zerstörte Überlandstraßen: Auch zwei Tage nach der Hochwasserkatastrophe in Bosnien und Herzegowina ist die Anzahl der bisher 16 Todesopfer wegen der zahlreichen Vermissten noch immer ungewiss – und der Umfang der wirtschaftlichen Schäden in dem angeschlagenen Balkanstaat kaum absehbar.

Auch am Sonntag suchten Rettungskräfte und Anwohner an der Neretva in den verwüsteten Ortschaften der Regionen Jablanica und Konjic fieberhaft nach weiteren Opfern – auch ohne große Hoffnung auf weitere Überlebende. Sie und ihr Sohn hätten die Katastrophe überlebt, berichtete in dem von einem Erdrutsch verschütteten Dorf Donja Jablanica heimischen Reportern weinend die Rentnerin Mirsada Tufek: „Aber unsere Nachbarn, Verwandte – es gibt es sie nicht mehr. Ich hoffe, dass man sie findet, damit wir sie wenigstens beerdigen können.“

Die spektakuläre Flusslandschaft in der Neretva-Schlucht zählt eigentlich zu einer der malerischsten Passagen bei der Fahrt von der Hauptstadt Sarajevo nach Mostar und weiter zur Adria. Doch nicht nur ungewohnt heftige Niederschläge verwüsteten in der Nacht zu Freitag die populäre Ausflugsregion. Gegen 1:30 Uhr überraschte die Bewohner von Donja Jablanica ein gewaltiger Erdrutsch samt einer plötzlichen Flutwelle im Schlaf. „Tausende von Kubikmetern rollten auf uns zu. Den Leuten blieb nicht einmal Zeit aufzustehen,“ berichtete der überlebende Dzenan Imamovic. Vier der fünf Häuser seiner Familie seien zerstört, neun Angehörige getötet worden: „Wir haben alles verloren.“

Allein in dem von einer enormen Gerölllawine verschütteten Dorf wurden mindestens 13 Menschen getötet – und werden nach unterschiedlichen Schätzungen noch zehn bis 15 Menschen vermisst. Die hohe Opferzahl erklären Anwohner und Regierungspolitiker des bosniakisch-kroatischen Teilstaats der Föderation auch mit einem Steinbruch, der seit Ende des Bosnienkriegs (1992-1995) offenbar illegal oberhalb des Dorfes betrieben wurde.

Erst hätten die Niederschläge die Abbaugrube wie einen See volllaufen lassen. Und als deren 20 Meter hoher „Damm“ möglicherweise aufgrund eines zusätzlichen Erdabgangs gebrochen sei, habe sich eine tausende von Tonnen schwere Geröll-, Schlamm- und Wasserlawine über das Dorf ergossen: Schon seit Jahren klagen Anwohner des Neretva-Tals über regelmäßige Erdabgänge durch illegalen Holzeinschlag und durch unsachgemäß oder ohne die erforderlichen Genehmigungen betriebene Steinbrüche.

Hilfe aus Kroatien, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro

Nicht nur in dem Vielvölkerstaat, sondern auch bei den ex-jugoslawischen Nachbarn hat die Hochwasserkatastrophe an der Neretva eine ungekannte Hilfswelle ausgelöst. Allein Kroatiens Regierung hat 10 Millionen Euro an Soforthilfe zur Verfügung gestellt. Rettungskräfte wurden auch von Serbien, Nordmazedonien und Montenegro entsandt. Nur der bosnische Serbenführer und Präsident des Teilstaates der Republika Srpska Milorad Dodik, der eine Minihilfe von 25 000 Euro angekündigte, machte sich die Katastrophe am Vorabend der bosnischen Kommunalwahlen erneut für kleinlichen Politstreit zu Nutze: Nicht Bosniens Regierung, sondern die Teilstaaten seien für die Ausrufung eines nationalen Trauertags verantwortlich, so seine Botschaft aus Banja Luka. 

Doch noch mehr als an den direkten Schäden dürfte der labile Vielvölkerstaat an den Folgeschäden zu knabbern haben. Denn die durch das Neretva-Tal laufende Bahnlinie und Fernstraße von Sarajevo und Mostar, die als wichtigste Verkehrsachse des Landes Zentralbosnien mit der Herzegowina verbinden, ist lahmgelegt: Dem Balkanstaat droht der totale Verkehrs- und Transportkollaps.

Infrastrukturschäden treffen das Land hart

Statt in etwas mehr als zwei Stunden dürfte die Fahrt von Sarajevo nach Mostar wegen der erforderlichen Umwege über Ost- oder Westbosnien in den kommenden Tagen oder Wochen kaum unter viereinhalb Stunden zu bewältigen sein. Doch vor allem die Wiederherstellung der zerstörten Bahnverbindung wird nicht nur enorme Mittel, sondern auch erhebliche Zeit erfordern.

Auf umgerechnet 140.000 Euro pro Tag beziffert Teilstaatspräsident Nermin Niksic allein die Einnahmeausfälle für die regionale Eisenbahngesellschaft. Ob die Chemie-Industrie in Tuzla, das Stahlwerk in Zenica oder das Eisenerzbergwerk in Prijedor: Der von Sarajevo erwartete monatelange Ausfall der Bahnverbindung zum kroatischen Adria-Hafen Ploce dürfte vor allem die Schwerindustrie des Landes hart treffen. Der Schienenverkehr sei „außer Funktion“ und „niemand weiß, wann er wiederhergestellt wird“, warnt das Webportal „klix.ba“ vor den „tiefen Folgen für unsere Wirtschaft.“

Korrektur: In der ersten Version dieses Artikels war von mindestens 18 Todesopfern die Rede. Diese Zahl wurde von den Behörden auf 16 korrigiert. Einige Fälle seien irrtümlich mehrfach registriert worden.