Insgesamt gab es 189 Meldungen zu körperlichen oder emotionalen Übergriffen sowie Verletzungen der Privatsphäre, aber auch zu sexuellen Übergriffen. Das geht aus dem nun vorgestellten Abschlussbericht der Kommission hervor.

In sogenannten SOS-Kinderdörfern sollen Kinder, deren Eltern sich aus diversen Gründen nicht um sie kümmern können, trotzdem in einem familiären Umfeld aufwachsen können. Ein großer Teil (rund 40 Prozent) der bekanntgewordenen Grenzverletzungen und Übergriffe fand dem Bericht zufolge in Kinderdorf­familien statt. Ein ebenso großer Teil ereignete sich bei stationären Unterbringungen in Wohngruppen mit Tag- und Nachtbetreuung. Bei einem gemeldeten Fall können auch mehrere Personen betroffen sein. Andererseits gibt es auch Verdachtsfälle, die sich nicht bestätigt haben oder bei denen die Klärung noch aussteht.

Emotionale Kälte und Ausgrenzung

Betroffene berichteten - so steht es in dem Bericht - vom Fehlen von Vertrauenspersonen, oder von emotionaler Kälte, die ihnen von Kinderdorfmüttern oder anderen Fachkräften entgegengebracht worden sei. Manche Kinder wurden aus Gruppen ausgegrenzt, andere berichteten von tage- oder auch wochenlangen Arresten.

„Todesangst“

Die Liste der Vorwürfe ist aber noch länger: Andere Kinder wurden dem Bericht zufolge zur Strafe im Keller eingesperrt. Manche hätten dabei auch eine längere Zeit stillstehen und an einen Kasten oder die Wand schauen müssen. Ein Mädchen, das in einer SOS-Pflegefamilie untergebracht gewesen sei, habe während der Nächte im Keller stundenlang geschrien und „Todesangst“ gehabt.

Körperliche Gewalt

Ein Großteil der Betroffenen berichtete demnach auch von körperlicher Gewalt: Manche seien von Kinderdorfmüttern oder Dorfleitern exzessiv geschlagen worden. Andere erzählten „von Ohrfeigen, Hin- und Herstoßen, gewaltsamem Festhalten, an den Haaren gezogen werden oder Schlägen „im Vorbeigehen““.

Sexueller Missbrauch

Vorwürfe sexualisierter Gewalt reichen dem Bericht zufolge von anzüglichen Bemerkungen über sexualisierte Berührungen „bis hin zu schwerem sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen, die sich teilweise über Jahre durch Mitarbeiter oder andere Betreute ereigneten“. Die Übergriffe hätten „in einem Geflecht aus Macht, emotionaler Abhängigkeit, Scham und Angst vor Strafe“ stattgefunden.

38 Einrichtungen mit 5000 Mitarbeitern

Viele der aufgeführten Beispiele liegen schon Jahrzehnte zurück. In dem Papier finden sich aber auch Berichte über Übergriffe von Betroffenen aus den vergangenen 20 Jahren. In der Hälfte aller Fälle gingen die Unrechtshandlungen laut Bericht von Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern des Vereins aus, in 20 Prozent von anderen betreuten jungen Menschen. In einem weiteren Großteil der Fälle waren mehrere Personengruppen betroffen. Konkret beziehen sich die genannten Zahlen auf den Zeitraum von 1976 bis Juni 2023. Aktuell gibt es in Deutschland 38 Einrichtungen und insgesamt rund 5.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Der Vorsitzende der Kommission, Klaus Schäfer, erklärte: „Grenzverletzungen und Übergriffe gegenüber den anvertrauten Kindern hat es bei SOS-Kinderdorf nicht nur in der Vergangenheit gegeben, sondern auch in der jüngeren Zeit bis heute.“ Der Bericht lege einen Grundstein für die weitere Aufarbeitung, die gegenüber den Betroffenen von mitfühlendem Erinnern, Aufklärung und Anerkennung des erlittenen Leids geprägt sein müsse.

Die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V., Sabina Schutter, sicherte zu, die Empfehlungen der Kommission aufzugreifen und umzusetzen. Der Bericht zeige deutlich, „dass es bei SOS-Kinderdorf seit seiner Gründung vor fast siebzig Jahren zu Unrecht, Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen gekommen ist“.

„Jeder Fall ist einer zu viel“

„Wir sind zutiefst erschüttert über die Vorkommnisse und bitten alle Betroffenen aufrichtig um Entschuldigung“, betonte Schutter. „Wir haben nicht immer gut genug hingehört, nicht alle Beschwerden ernst genommen und nicht angemessen reagiert. Dafür übernehmen wir die Verantwortung.“

Die Aufarbeitung sei auch nicht abgeschlossen. „Wir versprechen: Wir werden jeder Meldung von Unrecht, die uns zur Kenntnis gebracht wird oder wurde, schnell und umfassend nachgehen und im Sinne der Betroffenen handeln. Denn jeder Fall ist einer zu viel“, sagte sie.

Der Verein hatte die Kommission, die ihren Bericht nun vorgelegt hat, selbst eingesetzt. Ein Anlass war eine Studie, die Anfang Oktober 2021 Schlagzeilen machte, weil sie „Grenzüberschreitungen“ zweier Betreuerinnen in einem Kinderdorf in Bayern nahelegte.