Es wäre sein Tag gewesen, der siebente Verhandlungstag eines Strafprozesses, der in Frankreich schon als Jahrhundertprozess gilt. Der Tag, an dem Dominique Pélicot seiner Ex-Frau Gisèle hätte ins Gesicht sehen müssen. Der Tag, an dem man ihn zu seinen Taten befragt hätte. Warum hat er seine Frau fast zehn Jahre lang immer wieder mit dem Psychopharmaka Lorazepam betäubt, missbraucht und von mindestens 72 Männern vergewaltigen lassen?
Angeklagter plötzlich krank
Noch am Vortag stand der 71-Jährige im Glaskasten des Strafgerichts von Avignon. Dann wurde er in ein Spital eingeliefert – laut Anwalt leide er unter Unterleibsschmerzen und einer Harnwegsinfektion. Am Tag scheint er ein „jovialer Freund“ zu sein, wie ein Zeuge sagt, ein guter Vater, Großvater, ein treuer Ehemann. Nachts wurde er zu einem Monster. Man müsse sich seine Psyche wie eine Festplatte vorstellen, die in zwei unabhängige Abschnitte aufgeteilt ist, erklärte ein psychologischer Gutachter.
Seelische Krankheiten wurden nicht diagnostiziert, dafür eine Persönlichkeitsspaltung. Ein Psychiater sieht „exhibitionistische, voyeuristische, fetischistische, sadistische und somnophile Tendenzen“. Letzteres ist die Neigung, von Bewusstlosen angezogen zu sein.
Auf Kameras, Handys, Computern und Festplatten des Angeklagten fanden sich 20.000 Dokumente, Fotos und Videos. Pélicot führt zehn Jahre lang Buch über die Vergewaltigung seiner Frau durch Männer, die er im Internet rekrutiert. Woran er erkenne, dass das Opfer betäubt ist, fragt ein Anwalt den Experten? „Der Körper des Opfers ist leblos, ihre Arme hängen schlapp herab, wenn sie auf den Rücken gerollt wird.“
Pélicot verlangt für die Vergewaltigung seiner Frau kein Geld, er will filmen. Das Auto muss woanders abgestellt werden, damit Nachbarn keinen Verdacht schöpfen. Es darf vorher nicht geraucht, kein Parfüm getragen werden. Lehren aus Fragen, die Gisèle gestellt haben muss, wenn sie am nächsten Tag mit einer Gedächtnislücke erwachte: Warum der fremde Geruch?
Gisèle Pélicot ging davon aus, dass sie Alzheimer habe oder Krebs. Anders konnte sie sich Müdigkeit und Gedächtnislücken nicht erklären. Die Ärzte sahen nichts. Auch nicht die Gynäkologen, die sie wegen Schmerzen im Unterleib konsultierte. Der Gebärmutterhals war entzündet. Später ergaben Untersuchungen, dass sie mit sexuell übertragbaren Krankheiten infiziert worden ist.
Dominique Pélicot selbst streitet seine Tat nicht ab. Einer Psychologin gibt er zu Protokoll: „Es hat mich erregt, meine Frau mit einem anderen Mann zu sehen. Weil das auf natürlichem Weg nicht ging, habe ich dieses beschämende System benutzt.“
Gisèle Pélicot ist eine beeindruckende Frau, zierlich, aber aufrecht. Nach außen hin gelassen beantwortete sie Detailfragen zu ihrer Ehe, ihrem Sexualleben, zu Vorlieben bestimmter Stellungen beim Geschlechtsverkehr, zu ihrem Alkoholkonsum. „Mich stört keine Frage, Herr Richter“, sagte sie. Sie fühle sich wie eine Boxerin, die nach jedem Schlag wieder aufsteht, die Fassade solide, „das Innere ein Ruinenfeld“.
Die Ehe mit „Monsieur Pélicot“, wie sie ihren Ex-Mann nun nennt, beschreibt sie als „symbiotisch“. Fast 50 Jahre lang. Sie hat ihm blind vertraut. Bis zu jenem Tag im November 2020, als für sie eine Welt zusammenbricht. Ihr Mann war im Supermarkt erwischt worden, wie er Frauen unter ihren Röcken filmte. Dann stießen die Ermittler auf das Beweismaterial, das Dominique Pélicot als Archivar seiner Verbrechen angelegt hatte.
Ein sehr mutiges Zeichen
Ein Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit wäre ihr Recht gewesen – Gisèle Pélicot entschied sich dagegen. Sie wollte, dass der Name ihres Ex-Mannes, den sie nicht mehr trägt, öffentlich wird. Die 71-Jährige will die Gefahr ins Licht der Öffentlichkeit rücken – die Gefahr für Mädchen, denen Drogen ins Glas geschüttet werden und die missbraucht werden: „Jede Frau, die mit einer Gedächtnislücke aufwacht, soll an meine Worte denken“, betont sie.
Gisèle Pélicot brachte den Mut auf, sich alle Videos anzusehen. Vor Gericht verbittet sie sich, von „Sexszenen“ zu sprechen. Sie sei wie ein Müllsack behandelt worden, wie eine Lumpenpuppe: „Das sind Vergewaltigungen, das ist barbarisch, ich liege unbelebt da, vollkommen betäubt“. Niemand sei auf die Idee gekommen, ihren Mann anzuzeigen: „Ein anonymer Anruf hätte mir das Leben retten können.“
Von 72 Tätern sind 50 identifiziert. Einer floh, alle anderen sind angeklagt. Aus dem Gericht schleichen sich Männer mit Masken, Sonnenbrillen, tief sitzenden Kappen und hochgezogenen Rollkrägen. „Die Schande muss die Seite wechseln“, sagt Gisèle Pélicot. Die meisten leugnen alles. Einer sagt, er sei davon ausgegangen, dass Madame einverstanden gewesen sei. Ein anderer ging von „schrägen Sexualpraktiken“ aus.
„Sie legten die alte, verlogene Platte von der Einwilligung auf“, schreibt Hélène Devynck, Autorin von „Impunité“ (Straffreiheit). Das Aufgebot der Angeklagten sei eine „chemisch reine Probe patriarchaler Gewalt“. Nur zwei mutmaßliche Täter entschuldigen sich. Gisèle Pélicot will keine Entschuldigung. Sie will Gerechtigkeit. Ihr Ex-Mann wird als „Monster von Mazan“ in die Geschichte eingehen. Gisèle ist ein Musterbild des Mutes.