Meine Heimatstadt Odessa erlebt den dritten Sommer im Schatten des Krieges mit Russland. In den letzten Tagen hat Russland erneut die Ukraine mit zahlreichen Drohnen und Raketen angegriffen. In der Stadt ist der Strom ausgefallen, und wir haben Explosionen gehört. Der Betrieb des elektrischen Nahverkehrs wurde vorübergehend eingestellt. Odessa befindet sich jetzt in einem fragilen Gleichgewicht zwischen Normalität und Ausnahmezustand.
Doch trotz der allgegenwärtigen Gefahr zeigt die Stadt eine beeindruckende Resilienz und Lebenskraft. Die Straßen, die zu Beginn des Krieges oft menschenleer waren, füllen sich wieder mit Leben. Entlang der Küste flanieren Paare, Kinder spielen am Strand, und die salzige Meeresluft erfüllt die Stadt mit einem Hauch von Normalität. Die Menschen von Odessa, stolz und ungebrochen, zeigen, dass ihre Stadt lebt und niemals untergehen wird.
Ein entscheidender Faktor für dieses neue Lebensgefühl ist die Stärkung der Luftabwehrsysteme. Sie geben den Einwohnern und Besuchern ein gewisses Maß an Sicherheit, das es ihnen ermöglicht, zumindest für einige Stunden den Krieg zu vergessen. Odessa ist wieder ein Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Ukraine. Von Charkiw über Kiew bis Dnipro – die Nachfrage nach Tickets ist so hoch, dass sie oft Wochen im Voraus ausverkauft sind.
Odessa ist wieder ein Ort, der von seinem Tourismus lebt. Die Einnahmen durch die Gäste sind essenziell für die lokale Wirtschaft. Hoteliers, Taxifahrer und Restaurantbesitzer profitieren von den Besuchern. Und obwohl die Zahl der ausländischen Touristen gering ist, tragen auch sie dazu bei, dass sich Odessa wieder wie die offene und herzliche Stadt anfühlt, die sie immer war.
Besonders die Strände, die lange Zeit geschlossen waren, erleben nun eine Renaissance. Mehrere von ihnen wurden in diesem Sommer wieder eröffnet, vorher wurden sie gründlich auch nach Minen untersucht, gereinigt und renoviert. Die regionale Militärverwaltung stellte kürzlich eine aktualisierte interaktive Strandkarte vor, die rund 80 Zonen entlang der Küste von Odessa erfasst. Diese Karte zeigt grüne Bereiche, die sicher und für Besucher empfohlen sind, orangefarbene Zonen, in denen Einschränkungen gelten, und rote Zonen, die strikt verboten sind.
Die Verfügbarkeit von Schutzräumen in Hotels und an öffentlichen Plätzen spielt eine entscheidende Rolle, um Touristen anzuziehen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Obwohl viele Einrichtungen mittlerweile Schutzräume bereitstellen, ist die Anzahl dieser Orte noch immer unzureichend. Zudem fehlt es oft an klaren Hinweisen und Informationsmaterialien, die Touristen im Ernstfall schnell und effektiv informieren. Eine weitere Herausforderung ist die Gewöhnung an den ständigen Fliegeralarm, wodurch viele Menschen die Schutzräume ignorieren – ein gefährliches Spiel mit der eigenen Sicherheit, was die psychische Belastung der Menschen durch den Krieg verdeutlicht.
Doch die Herausforderungen in Odessa beschränken sich nicht nur auf die Sicherheit. Der Krieg hat auch die Infrastruktur schwer beschädigt. Um die ständigen Stromausfälle zu überbrücken, wurden in vielen Hotels, Cafés und Supermärkten Notstromaggregate installiert. Diese Anpassungen zeugen vom Einfallsreichtum und der Widerstandsfähigkeit der Stadt und ihrer Bewohner. Ein besonders berührendes Beispiel für die Solidarität erlebte ich vor einigen Wochen während einer schweren Hitzewelle: In einem kleinen Bus bot der Fahrer seinen Fahrgästen kostenlos Fächer an, um ihnen die Fahrt angenehmer zu gestalten. Solche Gesten der Menschlichkeit sind es, die Odessa zu einer Stadt machen, in der das Herz trotz aller Widrigkeiten weiter schlägt.
Die Stadt kämpft nicht nur gegen die äußeren Bedrohungen, sondern auch darum, ihre Seele und Kultur zu bewahren. Veranstaltungen finden weiterhin statt, wenn auch in kleinerem Rahmen. Vor kurzem öffnete das Archäologische Museum, das älteste Museum in Odessa, nach zweieinhalb Jahren wieder seine Türen. Die erste Ausstellung widmet sich der Insel Zmeiny von der Antike bis zur Gegenwart. Zur Eröffnung sind Hunderte Besucher ins Museum geströmt, obwohl es während der langen Schließzeit fast leer war und die wertvollsten Exponate bis zum Sieg sicher eingelagert wurden.
Ein Zeichen der Hoffnung ist auch die Präsenz ukrainischer Soldaten, die sich in der Stadt erholen. Oft sieht man sie in Parks und Cafés, wo sie Zeit mit ihren Kameraden oder Familien verbringen. Diese Soldaten, die an der Front schwerste Belastungen erlebt haben, suchen in Odessa ein Stück Ruhe und Frieden. In speziellen Erholungsheimen werden ihnen nicht nur physische, sondern auch psychologische Betreuungsprogramme angeboten, um ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Die Strände, die besonders für Menschen mit Behinderungen eingerichtet wurden, sind ein weiteres Beispiel für Odessas Bemühungen, allen Menschen, besonders den Verletzten des Krieges, ein Stück Normalität zurückzugeben. Der Kontakt zwischen den Soldaten und den Bürgern Odessas ist oft von Herzlichkeit geprägt. Ein bewegender Moment ereignete sich auf einem Markt in Odessa, als eine ältere Frau einem Soldaten einen Korb mit frischem Obst schenkte und ihn mit Tränen in den Augen umarmte. Die Menschen versuchen auf jede erdenkliche Weise, ihre Unterstützung und Wertschätzung zu zeigen, sei es, ein aufmunterndes Lächeln oder das Zuhören, wenn ein Soldat von seinen Erlebnissen erzählt.
Ein weiteres ergreifendes Bild in der Stadt sind die Kinder, die aus verschiedenen, besonders vom Krieg betroffenen Regionen der Ukraine nach Odessa gekommen sind. Diese Kinder,z.B. 300 aus Charkiv, die oft Schreckliches erlebt haben, finden hier Ablenkung und Freude. Sie verbringen ihre Tage am Strand, nehmen an kulturellen und Freizeitaktivitäten teil und erhalten eine umfassende Betreuung, die ihnen hilft, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Odessa beweist, dass selbst unter den schwierigsten Bedingungen das Leben weitergeht. Die Menschen hier haben gelernt, mit dem Krieg zu leben, ohne ihren Optimismus zu verlieren.