Es ist eine ungewöhnliche Szene, die sich in der Taliban-Hauptstadt Kandahar mittlerweile regelmäßig wiederholt. Inamullah Samangani, einer der Taliban-Pressesprecher und Leiter der lokalen Informations- und Kulturabteilung empfängt eine Touristengruppe in seinem Büro. Nur in Socken betreten sie den mit einem dicken rosarot-gefleckten Teppich ausgelegten Raum im Tiefparterre. Das Licht scheint von den hoch oben liegenden Fenstern auf das auf weißen Stoff gedruckte islamische Glaubensbekenntnis – die Fahne des mittlerweile dreijährigen Islamischen Emirats von Afghanistan.

Ausländer müssen für die Reiseerlaubnis in der Provinz Kandahar persönlich vorstellig werden. Samangani ist neugierig. Unter den Taliban-Kommandeuren sticht er mit unüblichen asiatischen Gesichtszügen hervor: Er ist kein Paschtune, sondern ethnischer Tadschike. Der Talib spricht ausgezeichnetes Englisch, scherzt mit seinen Gästen, gibt sich weltmännisch. Er lächelt viel, plaudert über den Katalonien-Konflikt und über Fußball. Als Frauenrechte zum Thema werden zeigt er jedoch sofort das wahre Gesicht der radikalislamischen Taliban und die Realität im Islamischen Emirat: „Das ist eine afghanische Angelegenheit und wir dulden keine Einmischung von außen. Wir sind hier nicht in Europa“. Frauen haben seit der Machtübernahme keine Rechte mehr.

Europäer sind es jedoch, die Afghanistan als touristisches Ziel für sich entdeckt haben. Neun Touristen sind Teil dieser Reisegruppe, die im März als organisierte Tour das zentralasiatische Land besuchte. Vorwiegend Männer und zwei Frauen – eine US-Amerikanerin und Auli Kuvalainnen aus Schweden. Kuvalainnen ist zum Zeitpunkt der Reise 77 Jahre alt. „Nach Thailand kann ich fahren, wenn ich alt bin“, sagt die rüstige Pensionistin. „Jetzt geht sich noch Afghanistan aus.“ Das Land habe sie fasziniert, seit sie in den 1970er-Jahren im Iran gelebt habe.

Drei Jahre nach der Machtübernahme der radikalen Gotteskrieger am 15. August 2021 ist die Lage in Afghanistan noch immer prekär. Laut Caritas leben 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung in Armut, zwei Drittel der Menschen seien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Menschenrechtslage hätte sich für Frauen und ethnische Minderheiten extrem verschlechtert, so Oliver Müller, Leiter von Caritas International. Öffentliche Auspeitschungen, Exekutionen und Steinigungen stehen wieder an der Tagesordnung, berichtet die Associated Press. Die nun herrschenden Islamisten haben ein Gender-Apartheidsregime etabliert und unterdrücken Frauen systematisch. Höhere Bildung ist für Mädchen seit 2021 untersagt.

Allerdings entwickelt sich die generelle Sicherheitslage positiv. „Nach dem Ende der bewaffneten Kämpfe haben sich die Möglichkeiten, den Hilfsbedürftigen zur Seite stehen zu können, in vielen Regionen des Landes erheblich verbessert. Es ist nun für unsere Helfer auch wieder möglich, früher umkämpfte, abgelegene Gebiete zu erreichen“, sagt Müller. Die Taliban erzeugen eine paradoxe Stabilität, indem sie selbst nicht mehr Krieg führen oder Anschläge verüben.

Das Islamische Emirat fördert Tourismus

Nicht nur NGOs wie die Caritas profitieren von dieser relativen Sicherheit, auch Touristen wie Kuvalainnen zieht es nun ins Land am Hindukusch. „Afghanistan ist ein wunderschönes Land, es ist authentisch“, sagt die frühere Hotelmanagerin. Lange sei eine Reise nicht möglich gewesen, durch den Krieg war die Lage jahrzehntelang zu gefährlich. Dieser Nischen-Tourismus wird anscheinend von höchster Stelle rund um Taliban-Anführer Mullah Hibatullah Achundsada gefördert. Man erhofft sich internationale Anerkennung und dringend benötigte Devisen. Dass sich die Willkür der Mullahs nicht nur auf Afghaninnen und Afghanen, sondern sehr wohl auch auf Ausländer entladen kann, zeigt die Geschichte des Österreichers Herbert F., der von 2023 bis Februar 2024 neun Monate lang in Kabul inhaftiert war. Der Grund: Ein falsches Foto am Handy.

Taliban gegen den „Islamischen Staat“

Die Fronten des Konflikts am Hindukusch haben sich verschoben. Die Mullahs kämpfen nicht mehr gegen die internationalen Truppen und die afghanische Republik, sondern gegen noch radikalere Glaubensbrüder. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat in der Provinz Khorasan“ (ISPK) hat die Taliban zu ihren Feinden erklärt, da diese zu liberal geworden seien. Der ISPK war es auch, der im Mai eine Gruppe Touristen am Bazar der Stadt Bamiyan angriff. Drei spanische Touristen sowie drei ihrer afghanischen Begleiter kamen dabei ums Leben.

Militärparade am Luftwaffenstützpunkt Bagram am 14. August 2024

Influencer zeigen sich auf Social Media

Dem Interesse an Afghanistan tut das dennoch keinen Abbruch, das Land ist zu einer Destination im internationalen Abenteuertourismus geworden. Umfangreiche Einblicke gibt es dafür auf Social Media. Als Afghanistan-Pionierin gilt die Influencerin Emma Witters. Die Schottin verbrachte 2023 mehrere Monate im Land und teilte ihre Erfahrungen als „Wandering Emma“ auf ihrem YouTube-Kanal. Bis vor wenigen Tagen reiste der bayrische Reise-Influencer Josua Wirth durch Afghanistan. Sowohl Witters als auch der 25-Jährige Bayer Wirth haben in den sozialen Medien ein Millionenpublikum. Witters ist in ihren Videos sehr unkritisch den Taliban gegenüber, betont jedoch immer wieder, keine Journalistin zu sein. Wirth hingegen bemüht sich seit seiner Ausreise Menschen.- und Frauenrechte zu thematisieren und die Realität im Land zu zeigen. Vor Ort wäre das zu gefährlich gewesen, wie er in seinen Videos betont.

67-Jähriger: Solo mit dem Motorrad

Die Präsenz in den sozialen Medien bringt auch andere Abenteuer-Reisende auf die Idee. Im April reiste der in Frankreich geborene Australier Didier Martin mit Zelt und Motorrad durch das Land. „Gefürchtet habe ich mich nur einmal“, erzählt der 67-jährige Pensionist der Kleinen Zeitung. „Ich wollte von Herat nach Kandahar fahren, doch die Straße war so schlecht und es wurde sehr spät. Also habe ich mein Zelt abseits der Straße, versteckt, aufgebaut und wollte dort die Nacht verbringen. Um Mitternacht sind dann sechs bewaffnete Taliban-Kämpfer gekommen. Ich dachte, meine letzte Stunde hat geschlagen. Doch sie haben mich nur zum nächsten Check-Point eskortiert. Ich sollte die Nacht dort verbringen, weil das sicherer sei. In der Früh fuhr ich dann weiter“.

Didier Martin bei einem Checkpoint in der afghanischen Provinz Helmand
Didier Martin bei einem Checkpoint in der afghanischen Provinz Helmand © zVfg.

2023: 7.000 Touristen in Afghanistan

Was die tatsächlichen Besucherzahlen angeht, so kamen im Jahr 2021 691 Touristen nach Afghanistan, 2022 waren es bereits 2.300 und vergangenes Jahr kamen 7.000. Mehr als 800 Mitglieder hat die Whatsapp-Gruppe „Afghanistan Travel Experience“, wo sich Menschen aus aller Welt zum Thema austauschen. Eine der Admins ist Afghanistan-Urgestein Emma Witters. Im Chat herrscht tagtäglich reges Treiben, er gilt als gute Informationsquelle für Individualtouristen.

Gastfreundschaft der Afghanen

Gruppenreise organisieren sich anders, mittlerweile gibt es einige Anbieter. „Untamed Borders“ aus Großbritannien wird vom Afghanistan-Experten James Willcox geführt, der im Winter auch Ski-Rennen in Bamiyan organisiert. „Against the Compass“ (ATC) aus Spanien hat sich neben Syrien auch auf Afghanistan spezialisiert, die Destination jedoch nach dem Anschlag auf die Reisegruppe in Bamiyan aus dem Programm genommen.

„Nicht alle Afghanen sind Taliban“

ATC-Chef Joan Torres kann die Faszination, die das Land auf viele Reisende ausübt, nur zu gut verstehen . „Afghanistan war immer von Interesse“, sagt der 36-Jährige. „Zur Zeit des Hippie-Trails, in den 1970er-Jahren, war Afghanistan eine gefragte Destination. Damals machte die unglaubliche Gastfreundschaft der Afghanen von sich Reden.“ Das sei selbst jetzt, unter der Herrschaft der Taliban, nicht anders. Kein anderes Land sei so roh und unentdeckt und dennoch so gastfreundlich. „Was die Taliban angeht,so ist es ist nicht so, dass wir sie bewerben würden. Im Gegenteil, man geht zu ihnen auf Distanz. Nicht alle Afghanen sind Taliban“, beschreibt Torres das moralische Dilemma einer solchen Reise. „Ich bin überzeugt, dass man auch in solche Länder fahren und sich selbst ein Bild machen sollte. Wir sind Touristen, keine Aktivisten sagt der Spanier.

Recherche für einen Reiseführer über Afghanistan

James Willcox führt seit 2008 Touristen in das kriegsgebeutelte Land. Derzeit recherchiert der Brite an einem Reiseführer, der in den nächsten Monaten erscheinen soll. Generell sei die Sicherheit in Afghanistan von 2008 bis 2020 immer schlechter geworden. Man habe sich in immer weniger Gebieten bewegen können. „Aber unter der neuen Regierung hat sich das Risiko von Anti-Regierungs-Terror drastisch verringert, weil nun die größte Anti-Regierungs-Gruppe die Regierung stelle“, sagt der Reiseveranstalter.

„Es hat einen besonderen Reiz, in ein Land zu fahren, wo sonst keine Touristen sind. Man bekommt ein Bild, das nicht durch den Rahmen des Tourismus gefärbt ist. Es ist eine authentische Erfahrung“, sagt Willcox, der ebenso überzeugt davon ist, dass Tourismus vor Ort positive Veränderung bringen kann. „Die Menschen hier haben jahrelang die internationale Community bekämpft. Die kennen Ausländer nur in Uniform. Sie sehen zum ersten Mal Touristen, normale Leute. Das schafft Vertrauen und es bringt positive Veränderung.“

Erste Fremdenführerin in Herat

Diese Veränderungen können durchaus überraschend sein. Somaya Moirya ist eine der wenigen weiblichen Fremdenführerinnen in Herat. Auf Instagram bewirbt sie ihre Dienste. In einem Telefonat sagt die 23-Jährige in bestem Englisch: „Die Taliban haben nichts gegen meine Tätigkeit, solange ich nur Frauen oder gemischte Gruppen führe. Für Frauen ist es nicht leicht, aber es ist nicht alles verboten. Mit Touristinnen zu arbeiten ist eine gute Möglichkeit, Geld zu verdienen. Aber vielmehr noch hat es positive Auswirkungen – sowohl für uns, als auch für die Touristen.“ Vor wenigen Tagen führte Somaya die Italienerin Francesca D‘Alonzo durch Herat - D‘Alonzo bereist Afghanistan ebenso mit dem Motorrad und hat als Influencerin „The Velvet Snake“ auf Instagram 173.000 Follower.

Für Afghanistan gilt die höchste Reisewarnung

Afghanistan bleibt dennoch ein gefährliches Reiseziel. Seitens des Außenministeriums gilt die höchste Reisewarnung. Österreicher werden aufgefordert, das Land sofort zu verlassen. Registriert man sich dennoch beim BMEIA für eine Afghanistan-Reise, so bekommt man Post aus Pakistan. „Die österreichische Botschaft in Islamabad, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten die konsularischen Aufgaben für Afghanistan wahrnimmt, kann ÖsterreicherInnen, die in Afghanistan in eine Notlage geraten, erst ab dem jeweiligen Grenzübergang in Pakistan direkte Hilfestellung leisten“, schreibt Konsulin Margit Loidolt.

Hinter den Zäunen von Torkham, dem Grenzübergang am legendären Khyber Pass, sind Touristen auf sich allein gestellt.