Was die 229 Menschen an Bord Boeing 777-300ER von Singapore Airlines durchlebt haben, ist an Dramatik kaum zu überbieten. Völlig unvermittelt dürfte die Maschine am Dienstag etwa zehn Stunden nach dem Start in London auf dem Weg nach Singapur in heftige Turbulenzen geraten sein. Die Flugbegleiter waren gerade dabei, Frühstück zu servieren, als es losging. Augenzeugen berichten, dass es viele Passagiere – die Anschnallzeichen sollen ausgeschaltet gewesen sein – plötzlich durch die Kabine schleuderte, die Atemmasken kamen herunter. Videos aus dem Innenraum des Flugzeugs nach der Notlandung in Bangkok zeigen das Chaos und lassen erahnen, dass die Passagiere hier Todesängste durchlebt haben müssen.
Ein Mann kam ums Leben, er ist vermutlich an einem Herzinfarkt gestorben. Am Mittwoch wurden noch 20 Personen auf Intensivstationen behandelt, 58 weitere wurden stationär versorgt, teilte das Samitivej-Krankenhaus in der thailändischen Hauptstadt mit.
Wie sind derart unvermittelte Turbulenzen möglich?
Sebastian Feiner ist erfahrener Kapitän bei einer österreichischen Fluglinie und im Vorstand der „Austrian Cockpit Association“. Im Gespräch mit der Kleinen Zeitung erklärt er, dass sich Piloten üblicherweise an Wetterkarten orientieren. Diese enthalten Prognosen zu Wind- und Temperaturänderungen und Messdaten anderer Flugzeuge. Zudem melden Piloten den Fluglotsen, wenn sie in ein Turbulenzgebiet einfliegen, sodass nachfolgende Maschinen gewarnt sind und entsprechend handeln können: Die Anschnallzeichen einschalten, Geschwindigkeit reduzieren, oder bei starken Turbulenzen das Gebiet umfliegen.
Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen können Turbulenzen auch überraschend auftreten, etwa wenn man der Erste ist, der in ein solches Gebiet fliegt: „Manchmal ist es so, dass in den Karten nichts eingezeichnet ist und es wird trotzdem turbulent und schüttelt den Flieger durch“, erklärt der Pilot.
Um 2000 Meter abgesackt? „So gut wie ausgeschlossen“
Berichte, wonach der Flieger um 2000 Meter „abgesackt“ sei, seien laut Feiner mit Vorsicht zu genießen. Wahrscheinlicher sei es, dass die Piloten die Höhe reduziert haben. „Eine der ersten Reaktionen, wenn man solche Turbulenzen bemerkt, ist es, einen Sinkflug einzuleiten.“ Ein ruckartiges Absacken um 2000 Meter, „das ist so gut wie ausgeschlossen“. Für genaue Aussagen müsse man aber noch die entsprechenden Daten abwarten. Auch die Aussage eines Passagiers, dass der ganze Vorfall nur zehn Sekunden gedauert hätte, hält Feiner für wenig plausibel. „Das würde auf eine Sinkgeschwindigkeit von zehn bis zwölf Kilometer pro Minute hindeuten, das schafft ein Flugzeug nicht einmal im freien Fall.“ Vielmehr glaubt Feiner, dass die Stresssituation zu einer „Zeitkompression“ in der Wahrnehmung geführt hat.
Auch Sebastian Feiner hat schon schwere Turbulenzen durchflogen, verletzt wurde dabei zum Glück aber niemand. „Das hat sich auf herumfliegendes Essen in der Küche beschränkt“.
Künftig könnte es mehr Vorfälle geben
Grundsätzlich sind Flugzeuge stabil genug, um auch mit den Kräften schwerer Turbulenzen fertig zu werden. Vorfälle mit Verletzten gelten als selten. Die Anzahl an Vorfällen insgesamt könnte aber zunehmen, aus mehreren Gründen. Zum einen aufgrund des zunehmenden Flugverkehrs insgesamt (der auch dazu führt, dass es weniger Ausweichmöglichkeiten im Falle von Turbulenzen gibt), als auch durch die Klimaveränderung. Im vergangenen Jahr hatten Wissenschafter der englischen Universität Reading einen Zusammenhang zwischen der Zunahme unsichtbarer Klarluft-Turbulenzen und dem Klimawandel nachgewiesen. An einem typischen Punkt über dem Nordatlantik maßen sie eine Zunahme des Phänomens um 55 Prozent im Zeitraum zwischen 1979 und 2020. Auch auf anderen Flugrouten gebe es mehr Turbulenzen als vor einigen Jahren.