Das Szenario dürfte durchaus filmtauglich gewesen sein: Mehrere Orcas haben eine Segeljacht in der Nähe von Gibraltar versenkt – der siebente derartige Vorfall in dem Gebiet seit 2020. Zwei Besatzungsmitglieder der 15 Meter langen „Alborán Cognac“ hatten 26 Kilometer vor Kap Spartel in Marokko am südlichen Eingang zur Straße von Gibraltar zunächst dumpfe Schläge gegen den Rumpf wahrgenommen. Dabei sei das Ruderblatt beschädigt worden, wurde unter Berufung auf Spaniens Seenotrettungsdienst berichtet. Als dann Wasser in das Boot eingedrungen sei, hätten die Segler einen Notruf abgesetzt – und wurden gerettet.
Bestimmte Population als „Täter“
Was motiviert, „triggert“ Schwertwale zu solchen Aktionen – und wie kann man sie deuten? Bianca König von der Whale and Dolphin Conservation (WDC), einer gemeinnützige Arten- und Tierschutzorganisation, die sich dem Schutz von Walen und Delfinen sowie deren Lebensraum verschrieben hat, betont im Interview: „Bei den Orcas in diesem Gebiet handelt es sich um eine bestimmte Population, die rund 50 Exemplare umfasst. 16-18 noch recht junge Individuen aus dieser Population treten seit vier Jahren mit Booten in Interaktion.“ Die nächstliegende Theorie sei, dass die jungen und übermütigen Orcas ein spielerisches Verhalten an den Tag legen: „Sie haben entdeckt, dass sie Boote durch Anstoßen von Ruderblättern lenken können und fanden Spaß daran.“
Statistisch gesehen sind Vorfälle wie der jüngste laut König sehr selten: Mehr als die Hälfte der Begegnungen mit den Orcas geht ohne Schaden vonstatten. Von 100 Booten, die sich in dem Gebiet befinden, kommt es nur bei etwa zwei bis drei überhaupt zu einer Begegnung. „Der Schiffbruch der Jacht ist natürlich dramatisch - über die vielen unproblematischen Begegnungen wird aber nicht berichtet.“ Obwohl stets von „Attacken“ die Rede ist, sprechen Forscher deshalb auch lieber von „Interaktionen“.
Ein gezieltes Muster dürfe man den Orcas nicht unterstellen: Die Straße von Gibraltar ist eine der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten – viele Ausweichmöglichkeiten gibt es für die Meeressäuger nicht. „Seit vielen Jahren muss sich die Population ihren Lebensraum mit Booten und Schiffen teilen. Die Orcas kennen deren Routen, die Techniken, mit denen gefischt wird, die ständige Präsenz der Menschen und den Unterwasserlärm. Es ist nicht verwunderlich, dass sie Verhaltensweisen entwickeln, um mit ihrer Umgebung zu interagieren. Letztlich befinden wir uns im Lebensraum der Orcas!“, so König.
Der Orca oder Schwertwal (Orcinus orca) ist ein Raubtier, das auch den berüchtigten Namen „Killerwal“ trägt: Der Beutegreifer – Männchen werden bis zu acht, Weibchen bis zu sieben Meter lang – reißt seine Opfer wie etwa Löwen oder Bären.
„Sensible, hochemotionale Seite“
Expertin König ist indes wichtig, zu betonen: „Es gibt aber auch die sensible, hochemotionale Seite der Orcas: Sie trauern um verstorbene Familienmitglieder, sind einfühlsam gegenüber Artgenossen, unterstützen sich bei der Aufzucht der Jungtiere, sie spielen, können sogar albern sein. Orcas sind hochintelligent, ihre Sozialstrukturen hochkomplex“.
Es sei „extrem unwahrscheinlich“, dass hinter den Vorfällen ein „Rachefeldzug“ der Wale gegen die Menschen steckt, tritt König absurden Theorien entgegen: Vielmehr haben die Orcas wenig Rückzugsmöglichkeiten oder Orte, an denen sie in Ruhe jagen oder ihrem Sozialverhalten nachkommen können. „Einer Orca-Dame sagt man nach, dass sie negative Erfahrungen mit Booten gemacht hatte - möglicherweise entwickelte sie eine Art Abwehrmechanismus.“
Aber: „In freier Natur gibt es keinen einzigen Fall eines Orca-Angriffs auf Menschen“, will König mit Mythen aufräumen.