Ungläubig saß die damals zwölfjährige Amy Khvitia 2014 vor dem Fernseher ihrer Großmutter und schaute ihre Lieblingssendung, die georgische Ausgabe des Supertalents. Sie sah den Tanzauftritt eines Mädchens, das exakt so aussah wie sie selbst. „Alle riefen meine Mutter an und fragten: ‚Warum tanzt Amy unter einem anderen Namen?‘“, erzählte sie gegenüber der britischen „BBC“. Die junge Georgierin sprach ihre Mutter darauf an, doch diese wimmelte sie mit der Aussage ab, dass jede Person irgendwo einen Doppelgänger hätte.
Rund sieben Jahre später postete Amy auf TikTok ein Video, in dem sie sich die Augenbrauen piercen ließ. Eine Freundin der 19-jährigen Ano Sartania, der Supertalent-Tänzerin von damals, sah dies und zeigte es ihr. Sofort wusste sie, dass sie die Frau, die ihr zum Verwechseln ähnlich sah, finden musste. Und es gelang ihr tatsächlich. „Ich habe so lange nach dir gesucht!“, schrieb sie. „Ich auch“, antwortete Ano.
Fortan tauschten sie unzählige Nachrichten aus und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Auch, dass sie beide 2002 in der Entbindungsklinik Kirtskhi, im Westen Georgiens, geboren wurden – laut Geburtsurkunden allerdings einige Wochen auseinander. Als sie allerdings herausfanden, dass sie beide am gleichen Gendefekt, einer Knochenkrankheit namens Dysplasie leiden, glaubten sie nicht mehr an einen Zufall. Und tatsächlich: Als sie ihre Familien mit den Fakten konfrontierten, gestanden sie, dass sie beide 2002 adoptiert wurden.
Müttern wurde gesagt, dass ihre Babys starben
Amy und Ano ereilte ein Schicksal, das vermutlich Zehntausende andere Kinder in Georgien mit ihnen teilen. Die Journalistin Tamuna Museridze, selbst als Baby verkauft, fand heraus, dass der Schwarzmarkt für den systematischen Babyhandel in ganz Georgien bereits in den 1970er-Jahren seinen Ausgang nahm und bis circa 2005 florierte. Den großteils ahnungslosen Müttern wurde nach der Geburt gesagt, dass ihr Baby beziehungsweise ihre Babys nicht überlebt hätten. „Das Ausmaß ist unvorstellbar, bis zu 100.000 Babys wurden gestohlen“, schätzte Museridze gegenüber der „BBC“. Genaue Zahlen herauszufinden ist beinahe unmöglich, da viele Dokumente nicht zugänglich oder gar nicht mehr existent sind.
Um ihre eigene Familie zu finden, gründete sie die Facebook-Gruppe „vedzeb“, was auf Georgisch so viel heißt wie „Ich suche“. Mittlerweile zählt die Gruppe jedoch mehr als 230.000 Mitglieder und dient als Anlaufstelle und Hilfe für viele Betroffene.
Auch Amy und Ano versuchten ihr Glück über die Facebook-Gruppe und waren tatsächlich erfolgreich. Ihre vermeintliche Halbschwester aus Deutschland meldete sich und erzählte ihnen, dass ihre Mutter 2002 in der Entbindungsklinik Kirtskhiv Zwillinge zur Welt gebracht hat, allerdings davon ausgegangen war, dass sie kurz nach der Geburt gestorben sind. Trotz großer Zweifel, vor allem von Ano, trafen die Zwillinge im Jänner 2024 ihre leibliche Mutter Aza in einem Hotel in Leipzig zum ersten Mal. Sie erzählte ihnen vom Tag ihrer Geburt, und dass sie gleich danach in ein Koma fiel. Als sie daraus erwachte, teilte ihr das Krankenhauspersonal mit, dass ihre beiden Töchter nicht überlebt hätten. Die Adoptiveltern von Amy und Ano beteuern, von dem illegalen Babyhandel nichts gewusst zu haben.
Bezüglich möglicher Konsequenzen für die Beteiligten des Babyhandel-Rings hält sich Georgiens Regierung sehr bedeckt, berichtet die „BBC“. Tamuna Museridze holte sich jedenfalls einen Anwalt für Menschenrechte an ihre Seite und möchte die Fälle einer Gruppe von Opfern vor Gericht bringen.