Jeden Tag soll während des Filmfestivals der Name eines „#metoo“-Täters genannt werden, das war die Ankündigung, die vor Festivalbeginn im Netz kursierte – die Nervosität war groß, passiert ist nichts. Thema war der Hashtag in Cannes nichtsdestotrotz: Die Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Judith Godrèche präsentierte ihren Kurzfilm „Moi aussi“, den sie mit 1000 Betroffenen drehte.

Seit Godrèche in ihrer revolutionären Comedy-Serie „Icon of French Cinema“ von ihren Anfängen in der Branche und einem übergriffigen Regisseur erzählte und diese Erfahrung sowie jene mit einem weiteren Regisseur öffentlich machte, viele Interviews gab und auch bei den Césars eine gefeierte Brandrede hielt, hatten sich 5000 Menschen an sie gewandt. In Frankreich, wo noch 2018 in einem offenen Brief Branchenvertreterinnen und -Vertreter wie Catherine Deneuve „die Freiheit, zu belästigen“ gefordert hatten, ein Meilenstein: „Der Film spiegelt natürlich nicht die ganze Gesellschaft wider, sondern nur jene Frauen und Männer, die sich an mich gewandt haben“, so Godrèche, der bewusst ist, dass es in Sachen Diversität Aufholbedarf gibt. Sie hat nun unfreiwillig einen neuen Job als Sprachrohr bekommen, und spürt durchaus den öffentlichen Druck, „es fühlt sich an, als müsste man perfekt sein, es ist kompliziert“. Geschockt hat sie „wie universell diese Erfahrung ist“, „ich fühle mich deshalb weniger allein damit“.

Es gibt noch viel Handlungsbedarf

Es gibt also auch sieben Jahre nach #metoo noch sehr viel Handlungsbedarf – wie können, müssen erste Schritte ausschauen? „Die Strukturen müssen sich ändern. Und es gibt ja bereits Gesetze, aber die existierenden Gesetze werden nicht exekutiert. Hinzu kommt: In der Filmindustrie gibt es offenbar Menschen, die über dem Gesetz stehen“.

Eine Industrie, die lange Zeit hauptsächlich von Männern erfundene Phantasiefrauen als Rollenbilder erschuf, arbeitete diesem System von unhinterfragten Genies nur zu. „Ganz offensichtlich ist Kino ein Spiegelbild von jenen, die das Kino machen“, erklärt Godrèche, „es braucht neue Perspektiven“. Und die gab es auch im notorisch filmkonservativen Cannes (auch heuer waren nur vier Filme von 22 Wettbewerbsfilmen von Regisseurinnen, im Jahr 2024 im Grunde unvertretbar) zahlreich – und die dazugehörigen Filme wurden heuer auch mit Preisen überhäuft, das ist nicht zuletzt der mit Lily Gladstone, Ebru Ceylan, Eva Green, Nadine Labaki, Juan Antonio Bayona, Pierfrancesco Favino, Kore-eda Hirokazu und Omar Sy sehr spannend besetzten Wettbewerbs-Jury unter dem Vorsitz von Greta Gerwig zu verdanken.

Tragikomödie über Sexarbeiterin

Die Goldene Palme ging heuer an „Anora“ des US-amerikanischen Filmemachers Sean Baker, eine Tragikomödie über eine Sexarbeiterin, die einen Oligarchensohn heiratet – Baker ist bekannt dafür, mit wohlwollendem, genauem Blick vor allem Figuren der Ränder der Gesellschaft ins Zentrum seiner Filme zu rücken. Der Große Preis der Jury ging an die indische Filmemacherin Payal Kapadia für ihr optisch brillantes wie hinreißendes Porträt von Frauenfreundschaften, „All We Imagine as Light“, auch das ein deutliches Zeichen für ein Festival, das jahrzehntelang den Wettbewerb nach dem Motto „wir haben schon zwei Regisseure aus China, wir brauchen keine Filmemacherinnen“ bestritt. Mit großer Freude wurde auch der Jury-Preis für „Emilia Pérez“, das wunderbar verrückte Thriller-Musical von Jacques Audiard über einen Drogenbaron, der hinkünftig als Frau leben will, aufgenommen, ebenso wie der Ensemblepreis für Adriana Paz, Karla Sofía Gascón, Zoe Saldaña und Selena Gomez. Coralie Fargeat erhielt für ihren herrlich überwuzelten Body-Horrorfilm „The Substance“ den Preis für das Beste Drehbuch – auch hier steht eine zutiefst weibliche Erfahrung im Zentrum.

Dem iranischen Regisseur Mohammad Rasulof gelang knapp vor der umjubelten und tränenreichen Cannes-Premiere von „The Seed of the Sacred Fig“ die Flucht – er war zuvor zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Der Film wurde mit einem Spezialpreis ausgezeichnet, was angesichts seiner packenden erzählerischen Qualitäten eleganter lösbar gewesen wäre.

Ehrenpalme für George Lucas

Natürlich bekamen auch alte Granden ihren angestammten Platz in Cannes - George Lucas erhielt die Goldene Ehrenpalme, Filme von Paul Schrader, George Miller, Kevin Costner, Francis Ford Coppola und Oliver Stone waren vertreten. Doch letztlich war es eine jüngere Generation, die jene Filme ablieferte, die über den Zustand der Welt neue Perspektiven anzubieten hatten: Andrea Arnold mit „Bird“, Agathe Riedinger mit „Diamant brut“ (beide gingen leider bei der Preisverleihung leer aus), leider auch Mo Harawe mit dem tollen österreichischen Beitrag in „Un Certain Regard“, „The Village Next to Paradise“. Gewonnen hat hier „Black Dog“ von Guan Hu, der Jury-Preis ging an „L’Histoire de Souleymane“ von Boris Lojkine über einen illegal in Paris lebenden und arbeitenden Fahrradboten, Hauptdarsteller Abou Sangaré erhielt auch den Schauspielpreis, ex equo mit Roberto Minervi und seinen Film „The Damned“ wurde auch die sambisch-walisische Regisseurin Rungano Nyoni für ihre atemberaubend wilde Tragikomödie „On Becoming a Guinea Fowl“ ausgezeichnet, die ebenfalls zu einem der Geheimtipps des Festivals wurde und das Thema Missbrauch auf eine Weise neu verhandelt, die im Kino definitiv noch nie so zu sehen war. Was für ein Film.  

„Die Zukunft des Kinos liegt dort, wo alles begonnen hat“, sagte Sean Baker, als er die Goldene Palme in Empfang nahm. Die Zukunft des Kinos liegt in Filmen, die über den Zustand der Welt neue Perspektiven anzubieten haben – insofern handelte es sich beim Filmfestival in Cannes heuer um einen guten Jahrgang, revolutionär auf eine unerwartete Weise.