Die ukrainischen Streitkräfte geraten bei der Verteidigung der östlichen Stadt Bachmut gegen die russischen Truppen laut britischen Angaben immer mehr in Bedrängnis. Die Ukraine verstärke zwar ihre Truppen in der Region mit Eliteeinheiten, die russische Armee und Kämpfer der russischen Söldnergruppe Wagner seien aber weiter in die nördlichen Vororte von Bachmut vorgedrungen, teilt das britische Verteidigungsministerium in seinem täglichen Lagebericht auf Twitter mit.
In der Stadt und der Umgebung gebe es heftige Kämpfe. Zwei wichtige Brücken in Bachmut seien in den vergangenen 36 Stunden zerstört worden, und die von den ukrainischen Truppen gehaltenen Versorgungsrouten seien zunehmend eingeschränkt. Am Freitag hatte die russische Artillerie die letzten Ausfallstraßen aus Bachmut beschossen, um die seit Monaten umkämpfte Stadt vollends einzuschließen. In der Stadt, in der vor dem Krieg rund 70.000 Menschen lebten, harren noch immer einige Tausend Zivilisten aus.
"Letzte Gefecht könnte bevorstehen"
Erste Anzeichen für einen Rückzug der Ukrainer sieht auch Oberst Berthold Sandtner von der Landesverteidigungsakademie des österreichischen Bundesheeres darin, dass viele Brücken über den dortigen Fluss zerstört und neue Befestigungslinien im Westen errichtet worden. "Das sind starke Indikatoren, dass sich diese russische Schlinge zur Zeit wirklich schon ziemlich eng zusammenzieht", sagte er Freitag Abend in der ZiB2. Das letzte Gefecht könnte hier unmittelbar bevorstehen.
"Der gesamte Donbass ist im Prinzip ein komplett entvölkertes Land, ein völlig zerstörtes Land. Es ist eine Mondlandschaft", ortet der Offizier in der ZIB2 ein düsteres Lagebild. Die Eroberung der Geisterstadt Bachmut habe für den Kreml eine strategisch-politische und einer militärstrategischen Bedeutung. "Wladimir Putin hat letzten April nach dem gescheiterten Blitzkrieg, die Devise ausgegeben, den Donbass zu 'befreien'. Man hat ihn politisch widerrechtlich angeschlossen, aber militärisch noch immer nicht. Bachmut ist ein weiterer Schritt in die Tiefe des Donbass", erklärt der Militärexperte die politische Agenda Putins. Der Heeres-Oberst sieht im Fall Bachmuts nun den Anfang der russischen Frühlingsoffensive kommen.
"Schachthaus auf beiden Seiten"
Die Situation sei "ein Schlachthaus auf beiden Seiten", hatte bereits zuvor der Kommandant einer ukrainischen Einheit dem Internetkanal Espresso TV gesagt. Teile einiger Einheiten seien angewiesen worden, in sichere Stellungen zu wechseln. Der Anführer einer ukrainischen Drohneneinheit sagte in einem in Video, seine Einheit sei zum sofortigen Rückzug aufgefordert worden.
Kiew hatt zuvor eingeräumt, dass die Angreifer versuchten, die Stadt einzukesseln. Der Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, sprach von einer fast vollständigen Einkesselung. Eine einzige Straße Richtung Westen würde den Ukrainern noch offen stehen. Ein Wagner-Kämpfer berichtete der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosty, die ukrainischen Truppen hätten bereits fast alle Brücken über den Bachmutska-Fluss gesprengt.
Russischer Minister in Süd-Donezk
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu besuchte nach offiziellen Angaben Kampftruppen in der Ukraine. Schoigu habe einen vorgelagerten Gefechtsstand in der Region Süd-Donezk inspiziert, teilt das Verteidigungsministerium in Moskau mit. In einem von dem Ministerium veröffentlichten Video ist Schoigu zu sehen, wie er Soldaten Orden verleiht und zusammen mit dem Kommandanten des Östlichen Militärbezirks, Rustam Muradow, eine zerstörte Stadt besichtigt.
Schoigu hat bisher selten die russischen Truppen in der Ukraine besucht. Er wurde in Russland für den Verlauf des Krieges, der nicht den raschen Sieg, dafür aber mehrere herbe Rückschläge brachte, von Kommentatoren und Kriegsverfechtern scharf kritisiert, auch von Wagner-Chef Prigoschin.
Nach den Worten des NATO-Oberbefehlshabers in Europa hat Russland bisher mehr als 2.000 große Kampfpanzer verloren. Mehr als 200.000 russische Soldaten und über 1800 Offiziere seien gefallen oder verwundet worden, sagte General Christopher Cavoli am Freitag auf einer Veranstaltung im Hamburger Rathaus. Pro Tag verschieße die russische Armee im Schnitt über 23.000 Artilleriegeschosse.
Bau einer Panzerfabrik
Während der Fonds des ukrainischen Komikers und Fernsehmoderators Serhij Prytula über 100 gebrauchte Panzerfahrzeuge zur Unterstützung der Armee erworben haben will, machte der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall Verhandlungen über den Bau einer Panzerfabrik auf ukrainischem Boden publik. "Für rund 200 Millionen Euro kann ein Rheinmetall-Werk in der Ukraine aufgebaut werden, das jährlich bis zu 400 Panther produziert. Die Gespräche mit der dortigen Regierung sind vielversprechend, und ich hoffe auf eine Entscheidung in den nächsten zwei Monaten", sagte Konzernchef Armin Papperger der Düsseldorfer "Rheinischen Post" vom Samstag. Die Ukraine brauche 600 bis 800 Panzer für einen Sieg, so Pappberger laut einem Vorausbericht.
Präsident Wolodymyr Selenskyj trieb indes die Pläne für ein Kriegsverbrechrtribunal gegen die russische Staats- und Militärführung voran. Zentrales Thema der internationalen Konferenz "United for Justice" (Vereint für Gerechtigkeit) in Lwiw sei "die Verantwortung Russlands und seiner Führung - die persönliche Verantwortung - für Aggression und Terror gegen unser Land und unser Volk" gewesen, betonte Selenskyj am Freitag in seiner allabendlichen Videoansprache. "Und wenn sie zur Rechenschaft gezogen werden, wird die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden." An dem Treffen waren auch Vertreter der EU und anderer europäischer Institutionen beteiligt.
Vorbild Nürnberger Tribunal
Die Ukraine bemüht sich seit Monaten, mit ihren Unterstützern einen internationalen Gerichtshof nach dem Vorbild des Nürnberger Tribunals für Nazi-Kriegsverbrecher zu bilden, vor dem sich führende Vertreter Moskaus für den Krieg gegen das Nachbarland verantworten sollen. Das Treffen in Lwiw war bis zu seinem Abschluss am Freitagabend offenkundig aus Sicherheitsgründen geheimgehalten worden.
An dem Treffen nahmen unter anderem US-Justizminister Merrick Garland und der niederländische Vizeregierungschef Wopke Hoekstra teil. Selenskyjs Ansprache an die Teilnehmer wurde erst nach Abschluss der Konferenz veröffentlicht. "Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und all seine Komplizen müssen gerechte und legale Strafen erhalten", forderte Selenskyj. "Für all das, was sie getan haben, im Namen und im Gedenken an alle, deren Leben sie genommen und deren Schicksale sie zerstört haben." Den Plänen für dieses von Kiew angestrebte Tribunal fehlen aber bisher wirksame Maßnahmen, mit denen die politische und militärische Führung Moskaus auf die Anklagebank gebracht werden könnte.