Emma Thompson rockte die Berlinale im Februar. Sie kam zum Filmfestival, um das Kammerspiel „Meine Stunden mit Leo“ („Good Luck to You, Leo Grande“) zu präsentieren und ließ ein paar Botschaften da: über Bodyshaming, weibliche Lust und verquere Schönheitsideale. „Über Sexualität sollten wir viel öfter und offener sprechen“, sagte die Oscarpreisträgerin.
Dieser Film traut sich. Drehbuchautorin Katy Brand skizziert in feinen Dialogen die Entdeckung der Sexualität einer älteren Frau mithilfe eines Callboys. Regisseurin Sophie Hyde inszeniert dieses Kammerspiel weder als Sex-Fantasie noch als derbe Komödie, sondern als witzigen und schonungslosen Film über die Sehnsucht nach Intimität, über Scham sowie über Einsamkeit. Emma Thompson verkörpert Nancy Stokes, die es endlich wissen will: Wie empfinde ich Lust? Wie fühlt sich Oralsex an? Und wie ein Orgasmus? Solchen hat sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann nie erlebt. Genauso wenig wie Leidenschaft, die sich an ihren Bedürfnissen orientiert. Ihr Erfahrungsschatz bisher: fade Routine nach Schema F bei der Ausübung der ehelichen Pflichten.
Dass Sophie Hyde eine ältere Frau und ihre Bedürfnisse in den Fokus des Films rückt und ihr einen jungen Mann zur Seite stellt, hat schon Seltenheitswert. Dass diese Ü50-Frau aber auch als sexuelles Wesen gezeigt wird, ist schlicht revolutionär. Im Internet hat sie sich einen Sexarbeiter ausgesucht, bezahlt und bestellt. Im Hotelzimmer wartet sie auf ihn. Nervös zupft sie an ihrer Bluse, streicht über ihren Bleistiftrock, tauscht flache Schuhe gegen High Heels. Sie nimmt einen Schluck von einem Fläschchen mit hochprozentigem Inhalt.
Auftritt, Leo Grande (Daryl McCormack)! Der entspannte Mittzwanziger ist bereit, Nancy in die Geheimnisse der Lust einzuweihen und die Liste, die sie sich wie für einen Lebensmitteleinkauf dafür zurechtgelegt hat, abzuarbeiten. Zuerst muss er ihre aufgestauten Zweifel über ihren Körper aus dem Weg räumen. Ihr beibringen, Kontrolle abzugeben. Immer wieder kommt die Lehrerin in ihr durch. Als jene hat sie ihre Schülerinnen und Schüler Sexarbeit aus moralischem Blickwinkel erörtern lassen. Und nun ist sie selber eine Kundin.
Die Annäherung der Charaktere geht über das Körperliche weit hinaus. Beide entblößen sich seelisch. Großes, zärtliches und Schauspielkino, bei dem McCormack neben der großartigen Emma Thompson bestechend bestehen kann. Für den Mut, den die 63-Jährige dabei für nackte, unretuschierte Szenen aufbringt, empfiehlt sie sich für alle wichtigen Preise im nächsten Jahr.