Die russischen Staatsmedien widersprechen sich. „Schmutzig, zerlumpt, verängstigt“, betitelte die Agentur RIA Nowosti den Auszug der ersten ukrainischen Soldaten aus dem Stahlwerk Asowstal in Mariupol. „Sie waren nicht schmutzig, ausgezehrt oder verängstigt“, schrieb die Massenzeitung „Komsomolskaja Prawda“ am nächsten Tag über die kapitulierenden Feinde.
Wie wird Russland das nutzen?
Wladimir Putin hätte allen Anlass, den Sieg zu feiern: In Mariupol ergibt sich das berühmte Asow-Regiment, nach russischer Lesart eine Ansammlung neonazistischer Kriegsverbrecher. Tatsächlich rekrutierte sich der 2014 gegründete Verband zum Teil aus rechtsradikalen Fußballfans, die Wolfsangel auf seinen Abzeichen prangte einst auch auf Divisionswappen der Waffen-SS. Und Russlands Staatschef begründet seine „Spezialoperation“ in der Ukraine unter anderem damit, es gelte, die Ukraine zu denazifizieren. Eine fragliche These, bei den jüngsten Parlamentswahlen 2019 scheiterten die rechtspopulistischen Kräfte mit insgesamt 2,4 Prozent krachend. Aber, so kommentiert die BBC, „Asow-Kämpfer gefangen zu nehmen und sie wohl möglich vor Gericht zu stellen, erlaubt es Putin zu behaupten, es finde wirklich Denazifizierung statt.“
Bisher aber versicherte Kremlsprecher Dmitri Peskow eher dürr, es gebe keinen Zweifel, dass die Ukrainer im Stahlwerk kapituliert hätten. Er und andere öffentliche Sprecher haben alle Hände voll zu tun, die ukrainische Version zu dementieren, es handele sich bei der Gefangennahme um eine von Kiew eingeleitete Evakuierung der Verteidiger, mit dem Ziel, sie später gegen russische Gefangene auszutauschen. Tatsächlich beschönigt die ukrainische Darstellung die Wirklichkeit: Zumindest ein Teil der Gefangenen landete inzwischen in Oljonowka, einer Strafanstalt der Donezker Rebellenrepublik, die ein Vertreter der ukrainischen Stadtverwaltung von Mariupol vorher als Konzentrationslager bezeichnet hatte. Und die Kiewer Unterhändlerin Kira Rudik gab gegenüber der „New York Times“ zu, es gäbe keine Vereinbarung über einen Gefangenenaustausch.
Die Zukunft vor allem der Asow-Mitglieder ist ungewiss. Am Dienstag kündigte Staatsduma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin an, das Parlament werde eine Resolution verabschieden, die einen Austausch der Asow-Soldaten verbietet. Andere Parlamentarier verlangten die Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Senator Andrei Klischas forderte auf Telegram, alle Asow-Neonazis in den Rebellenrepubliken Donezk und Lugansk vor Gericht zu stellen, wo sie ihre Verbrechen begangen hätten. Und die russische Generalstaatsanwaltschaft stellte beim Obersten Gericht einen Antrag, das Asow-Regiment zur terroristischen Vereinigung zu erklären. Das könnte russischen Richtern eine Handhabe bieten, gefangene Asow-Krieger, die sich nicht von ihrem Regiment lossagen, allein deshalb für zehn bis 20 Jahre einzusperren.
Allerdings bemühen sich die Staatsmedien bei der Berichterstattung über die besiegten Feinde bisher um Zurückhaltung. Übergriffe, auch massenhafte Willkürsurteile würden Russlands Image in der Weltöffentlichkeit weiter schädigen. Auch wenn der rechtsimperialistische Donbass-Veteran Igor Strelkow auf Telegram verkündet, Hauptziel der Gefangenen sei der „Genozid der russisch/sowjetischen Menschen“ gewesen. „Gerade deshalb darf man sie nicht am Leben lassen. Keinen. Demonstrativ keinen.“ Der Kreml kann sich kaum erlauben, die blutrünstigen Begierden zu befriedigen.
Stefan Scholl (Moskau)