Neue Zusagen für Militärhilfe aus den USA und Europa, dazu der ukrainische Brigadegeneral Oleksander Tarnawskyj, der den Durchbruch der ersten mehrerer russischer Verteidigungslinien im Süden meldet. Es klingt nach einer erfolgreichen Woche für Kiews Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren. Kommt nun tatsächlich Fahrt in die vor drei Monaten angelaufene und bisher eher schleppend verlaufende Gegenoffensive? Deren Ziel ist, bis ans Asowsche Meer vorzudringen, um die russische Versorgung im Süden zu durchtrennen. Zwischen den ukrainischen Truppen und dem Meer liegt allerdings ein massives russisches Verteidigungssystem, die sogenannte Surowikin-Linie. Diese ist nun erreicht – und teilweise durchbrochen.
Der Durchbruch dürfe nicht überbewertet werden, es liege im Kalkül der Russen, dass die eine oder andere Linie durchbrochen wird. "Sie sollen den Gegner nicht abhalten, sondern abnutzen", sagt Militärstratege Markus Reisner im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Diesem Zweck dienen auch die Minenfelder "extremer Qualität und Quantität", die zwischen den einzelnen Verteidigungsposten angelegt wurden. Sie zu räumen, kostet Zeit, tut man dies nicht, riskiert man zerstörte Fahrzeuge. Beides nutzt den Russen.
100 Meter pro Tag
Dennoch kommen die Ukrainer voran, laut Nato-Chef Jens Stoltenberg mit Geländegewinnen von etwa 100 Metern pro Tag. Reisner präzisiert den Begriff "Durchbruch": Der Ukraine sei es gelungen, die "Gefechtsvorpostenlinie" zu durchbrechen, die erste Linie des Verteidigungssystems. Dabei konnte man in die Hauptverteidigungslinien eindringen, diese "aber nicht durchbrechen", vergleicht Reisner die Situation mit jemandem, der versucht, in ein Haus einzudringen, und den Fuß bereits in der Türe hat. Das Dilemma dabei: Man wisse nicht, wie viele weitere Türen noch zu erwarten sind bis in den Vorraum, das Wohnzimmer, zur Terrasse und schließlich dem Swimmingpool – dem Asowschen Meer.
Zwar habe Kiew (vor allem durch massive Unterstützung durch Nato und USA in Sachen Aufklärung) ein gutes Lagebild über die russischen Stellungsanlagen, aber man weiß nicht, wie viele Soldaten dort sind oder wie viele bewegliche Panzerabwehrlenkwaffentrupps es gibt. "Das ist die Schwierigkeit", so der Experte. Dazu komme, dass beide Seiten Tausende Drohnen einsetzen, sich permanent gegenseitig überwachen, ein "Katz-und-Maus-Spiel".
"Immer klar gewesen, dass Linien durchbrochen werden"
Ob es der Ukraine gelingt, den Druck aufrechtzuerhalten, um "in das Haus einzudringen", würden die nächsten Tage zeigen. Ähnlich sieht es Militäranalyst Franz-Stefan Gady. Es sei immer klar gewesen, dass früher oder später die Verteidigungslinien durchbrochen werden, "die Frage war immer, unter welchen Bedingungen und vor allem, ob die Ukraine noch genügend Reserven haben wird, um in den Bewegungskrieg überzugehen und tief in den Raum zu stoßen", schreibt Gady auf X (Twitter).
Offensive nicht gescheitert
Letztendlich gehe es darum, welche Seite über mehr Reserven verfügt.
Welches Fazit ziehen Experten also über die bisherigen Erfolge und wie könnte es weiter gehen? Markus Reisner: "Es war nie geplant, dass die Offensive so lange dauern würde, man wollte – das weiß ich auch von ukrainischen Quellen – am 4. Juni beginnen und binnen 14 Tagen am Asowschen Meer sein." Tatsächlich ist der erste Durchbruch aber erst jetzt gelungen. Gescheitert nennt Reisner die Offensive trotzdem nicht. Jederzeit könne es zu einem Ereignis kommen, das einen Art Dammbruch auslöst und die russischen Verteidigungslinien zusammenbrechen lässt.
Zuversichtlicher klingt der Militärexperte und ehemalige Leiter des Leitungsstabes im deutschen Verteidigungsministerium, Nico Lange. Zur "Tagesschau" sagte er, dass vieles darauf hindeute, "dass die zweite und die dritte Verteidigungslinie nicht so stark besetzt sind". In dem Territorium im Süden seien nur "die ersten 20, vielleicht 25 Kilometer mit Verteidigungsstellungen durchsetzt, danach kommt offenes Gelände". Somit sei der größte Teil der gut 100 Kilometer bis zum Meer schneller zurückzulegen.
Auch Lange sieht die aktuelle Herausforderung in der Frage der verbleibenden Reserven – vor allem personell. Für die Nutzung eines möglichen Durchbruchs und das Vorstoßen in die Tiefe sei das entscheidend. Doch sowohl Russland als auch die Ukraine haben mit personellen Problemen zu kämpfen. Gady dazu: "Die Verluste beider Seiten scheinen signifikant zu sein, doch das genaue Verhältnis zueinander ist unklar. Das macht eine Evaluierung der ukrainischen Erfolgsaussichten sehr schwierig."
Anders als im Süden konzentriert sich die ukrainische Armee an der Front im Osten bisher verstärkt auf Abwehrkämpfe gegen die russischen Invasionstruppen. Zwar meldete der ukrainische Generalstab am Freitag ebenfalls einen "Teilerfolg" bei Bachmut, nannte aber keine näheren Details.
"Wir belügen uns oft selbst"
Ein großes Problem für die Ukraine sieht Markus Reisner in der zögerlichen Lieferung der vom Westen versprochenen Waffen und findet dafür klare Worte: "Wir belügen uns oft selbst." Ob Artilleriesysteme, Kampf- oder Schützenpanzer, die Ukraine habe nur 40 bis 50 Prozent der von General Walerij Saluschnyj als für die Offensive nötig bezeichneten Waffen erhalten. Dass die Ukraine so wenig bekommen hat, war dann kein Thema mehr, so die Kritik. "Damit hätten wir – Europa, von Österreich spreche ich hier gar nicht – uns fragen müssen: Warum sind diese Sachen nicht geliefert worden?" Das Dilemma sei, dass das Material nur stückweise oder spät kommt, sagt Reisner. Eine schnelle und vollständige Lieferung hätte für den als Frühjahrsoffensive gestarteten Vorstoß natürlich einen Unterschied gemacht.