Drei Mal ist Marine Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen angetreten, drei Mal hat sie verloren, doch mit jedem Versuch Millionen Stimmen dazugewonnen. Ihre Strategie der Normalisierung hat sich ausgezahlt. Mit 88 Abgeordneten ist das Rassemblement National (RN) stärkste Oppositionspartei im Parlament. Wären morgen Wahlen, so mehrere Umfragen, würde Le Pen den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron schlagen. Die nächsten Wahlen sind 2027, aber Le Pen sieht sich bereits als nächste Präsidentin.
Madame Le Pen, wie erklären Sie sich Ihren Aufwind und den Erfolg in den Umfragen?
Marine Le Pen: Wir ernten, was wir gesät haben. Wir haben mit einem außerordentlich ernstzunehmenden und detaillierten Politikprojekt während des Präsidentschaftswahlkampfs Probleme vorausgesehen, die sich seit einem Jahr als akut erwiesen haben. Wir haben uns als kompetent erwiesen, respektieren die politischen Institutionen und gewinnen auf diese Weise das Vertrauen von mehr und mehr Wählern. Dazu hat aber auch die Enttäuschung über Emmanuel Macrons Versprechen beigetragen, dass er sich ändern werde. Inzwischen ist seinen Wählern klar geworden, dass er sich niemals ändern und so weitermachen wird wie in seiner ersten Amtszeit, mit noch weniger Respekt für das französische Volk.
Werden Sie bei den Präsidentschaftswahlen 2027 wieder antreten?
Ich war drei Mal Kandidatin und bin deswegen die natürliche Kandidatin meiner politischen Familie, aber keine auf Lebenszeit.
Viele bescheinigen Frankreich eine Demokratiekrise. Wie beurteilen Sie die Lage?
Wenn der Präsident sich nicht an die Spielregeln hält, was mehrheitlich so empfunden wird, dann kann man von einer Demokratiekrise sprechen. Er hätte eine Abstimmung über die Rentenreform zulassen müssen, weil er wusste, wie hochentzündlich das Thema ist. Emmanuel Macron ist ein Wachstumshormon für Politikverdrossene und all diejenigen, die nicht mehr an die Demokratie glauben. Er umschifft die Demokratie jedes Mal, wenn das Parlament in eine andere Richtung tendiert als die Regierung. Er hat dafür gesorgt, dass tausende junge Leute auf die Straßen gehen.
Sprechen wir über Außenpolitik, Madame Le Pen. Wie hätten Sie sich im Angriffskrieg gegen die Ukraine an Macrons Stelle verhalten?
Wir haben seit Beginn des Konflikts klar Position bezogen und gesagt, dass es ein großer Fehler ist, die Ukraine militärisch anzugreifen. Als Präsidentin würde ich alles für eine friedliche Lösung des Konflikts tun, weil es keine guten Lösungen gibt: Wenn Russland den Krieg gewinnen würde, wäre es eine Katastrophe. Alle Staaten, die einen territorialen Konflikt haben, würden sich einbilden, dass sie ihn mit Waffen lösen können. Sollte die Ukraine gewinnen, würde das bedeuten, die NATO wäre Kriegspartei, weil die Ukraine Russland allein militärisch nicht standhalten kann. Wir hätten also einen Dritten Weltkrieg ausgelöst. Wenn wir weiter tröpfchenweise Waffen liefern, sorgen wir für einen neuen Hundertjährigen Krieg, was angesichts der vielen Todesopfer eine menschliche Katastrophe wäre. Mein Eindruck ist, dass viele von diesem Konflikt sprechen, als handele es sich um ein Videospiel.
Was heißt das konkret, soll Frankreich weiter Waffen liefern oder nicht?
Frankreich kann weiterhin defensive Waffen liefern, aber ich bin entschieden gegen eine Lieferung offensiver Waffen. Zweitens sind wir dabei, unsere eigenen Verteidigungskapazitäten zu beeinträchtigen, uns also zu schwächen. All das ist nicht folgenlos. Ich bin auch gegen Energie-Sanktionen. Ich halte das schlicht für Dummheit, wenn man selbst nicht genügend Energie hat.
Macron hat mit Sätzen zu Taiwan für Aufsehen gesorgt, mit denen er den USA die blinde Gefolgschaft verweigert und den Taiwan-Konflikt nicht als "unsere Krise" bezeichnet. Was denken Sie?
Ich stimme mit ihm überein, aber Macrons Problem ist wie so oft sein "sowohl als auch", weil er einerseits solche Äußerungen macht, sich andererseits aber der diplomatischen Agenda der EU unterordnet, von der wir alle wissen, dass sie stark von den USA beeinflusst wird. Er widerspricht sich, weil er Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Gepäck hat, die diplomatisch niemanden repräsentiert.
Die Botschaft war, dass Europa geeint ist. Macron spricht von der EU als dritter Weltmacht. Teilen Sie diese Vision?
Ich glaube nicht an dieses Konzept. Seit Jahren verkauft uns Macron die europäische Souveränität, aber es gibt keine. Um von Souveränität sprechen zu können, braucht es ein Volk. Es gibt kein europäisches Volk. Europa hat kein Mandat und keine Stimme gegenüber Großmächten wie den USA und China.
Aber es hat einen großen Markt, der als Hebel wirken kann…
Ein Markt macht noch keine Diplomatie.
Sie meinen, Frankreich allein wäre stärker gegenüber dem chinesischen Präsidenten?
Warum denn nicht? Frankreich ist eine Atommacht, das darf man nicht vergessen. Heute ist es Mode, für seins zu halten, was anderen gehört. Aber die Atombombe ist und bleibt unsere und nur unsere. Als einzige Atommacht in Europa ist unsere Stimme lauter, vorausgesetzt, dass man was zu sagen hat.
Georgia Meloni ist in Italien an die Macht gekommen als Pro-Europäerin, Transatlantikerin und Befürworterin der Nato. Würden Sie die Normalisierung Ihrer Partei genauso weit treiben?
Nein. Ich bleibe euroskeptisch und jeden Tag, der vergeht, werde ich noch euroskeptischer.
Es fällt auf, dass Ihr altes Lieblingsthema Immigration nicht mehr ihre Priorität ist. Haben Sie das Gefühl, die kulturelle Schlacht gewonnen zu haben, weil sich inzwischen viele Parteien des Themas angenommen haben?
Wir verzeichnen in Sachen Immigration in der Tat einen totalen ideologischen Sieg. Selbst die Kommunistische Partei Frankreichs fordert heute Grenzen. 85 Prozent der Franzosen sind der Meinung, dass wir eine anarchische Immigration erleben, die reguliert werden muss.
Das Beispiel Meloni zeigt, dass auch eine Nationalistin nicht viel gegen illegale Migration tun kann. Die Einwanderungspolitik Italiens hat sich nicht radikal verändert…
Meloni ist nicht meine Zwillingsschwester. Ich bin für eine abschreckende Einwanderungspolitik. Abschreckung funktioniert nur, wenn man Kindergeld auf französische Familien beschränkt und die Staatsbürgerschaft nicht automatisch denjenigen gibt, die auf französischen Boden geboren werden.
Sie spielen auf die "nationale Priorität" an, die Bevorzugung von Franzosen, was gegen die französische Verfassung verstößt. Wie wollen Sie das durchsetzen?
Ich werde mir die Mittel geben und per Referendum eine Verfassungsänderung abstimmen lassen. Die Bevorzugung von Franzosen war verfassungsgemäß. Aber inzwischen haben internationale Verträge das französische Recht verändert. Ich kann meine eigene Einwanderungspolitik nur durchsetzen, wenn ich dafür sorge, dass ein internationaler Vertrag nicht gilt, sobald er gegen die Verfassung Frankreichs verstößt.
Halten Sie die Ent-Diabolisierung Ihrer Partei für erfolgreich abgeschlossen?
Ich kann schwerlich das Gegenteil behaupten, schließlich haben wir uns innerhalb weniger Jahren von der verhasstesten zur beliebtesten Partei Frankreichs entwickelt, was nicht daran ändert, dass der Medien- und Politikbetrieb immer noch Vorbehalte hat. Aber die hat er seit 30 Jahren.
Einige Experten für Rechtsextremismus bezeichnen das Rassemblement National nicht mehr als rechtsextrem. Historisch hatte ihre Partei Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppierungen, sind die endgültig gekappt?
Wir haben niemals Verbindungen zu gewalttätigen Gruppen gehabt. Als Parteivorsitzende habe ich selbst jeden schonungslos ausgeschlossen, der seine Überzeugungen mit Gewalt durchsetzen wollte. Rechtsextreme Grüppchen sind unsere politischen Feinde, die wir bekämpfen wie sie uns.
Was unterscheidet Sie vom Rechtsextremismus?
Der Rechtsextremismus ist eine politische Tradition mit klaren ideologischen Markern: Antiparlamentarismus und Einsatz von Gewalt. Uns wurden 20 Jahre lang ein falscher Prozess gemacht. Wir waren nie rechtsextrem.
Sie haben den Marker Antisemitismus vergessen, der zur Geschichte ihrer Partei gehört…
Niemand hält den RN für antisemitisch!
Aber der Front National Ihres Vaters war es…
Jetzt geht das wieder los! Ich habe unsere jüdischen Mitbürger meiner Unterstützung bei jeder sich bietenden Gelegenheit versichert. Niemand wird auch nur ein Wort von mir oder anderen Mitgliedern der Partei finden, das als antisemitisch bewertet werden kann.
Der Rassismus gehört ebenfalls zu den Markern…
Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass ich Rassistin bin? Bei den Präsidentschaftswahlen habe ich in den französischen Überseedepartement mehr Stimmen als Macron erzielt. Das beste Ergebnis habe ich in Mayotte erreicht, wo unsere Mitbürger nicht nur schwarz, sondern muslimisch sind. Keine einzige Zeile unseres Programms spielt auf die Hautfarbe, die Wurzeln, die Religion an. Ich verteidige die Franzosen, ganz gleich woher sie kommen. Aber sie sollen mehr Rechte haben als diejenigen, die nicht die Staatsbürgerschaft haben.
Frankreich ist hoch verschuldet. Würden Sie die Maastrichtkriterien respektieren, wenn Sie Präsidentin wären?
Die Maastrichtkriterien sind ein Ding, das auf einem Bierdeckel ausgerechnet wurde. Die haben in die Runde gefragt: "Was setzen wir an? Fünf, vier, ach geh', nehmen wir drei Prozent!" Das war willkürlich, daran ist nichts wissenschaftlich.
Schulden sind also kein Problem?
Doch. Schulden bleiben ein Problem. Aber ich bin davon überzeugt, dass man es über souveräne Investitionsfonds lösen kann, bei denen die Franzosen von den Zinsen profitieren würden und nicht die Banken.
Madame Le Pen, haben Sie sich mit Ihrem Vater versöhnt?
Ja, Zum Glück, alles andere wäre traurig. Mein Vater ist 95 und ich sehe es als meine Pflicht als Tochter an, eine normale Beziehung zu ihm zu pflegen. Wir sprechen weniger über Politik, weshalb wir uns weniger streiten…
Sie verleugnen also das politische Erbe nicht, das er als Gründer ihrer Partei hinterlässt?
Ich verleugne gar nichts. Ich war immer der Auffassung, dass man zu allem stehen muss. Zur Geschichte meiner Partei und zur Geschichte Frankreichs. Es ist nicht sehr ehrenhaft, Mülltrennung zu betreiben und nur das zu behalten, was glorreich war und das, was weniger glorreich war, zu verleugnen. Es wurden Fehler gemacht, es wurde Dinge gesagt, die andere verletzten. Aber in einer Partei muss man aus Fehlern lernen.
Martina Meister (Paris)