Die Wut ist groß in Frankreich. Am Donnerstagabend, nachdem Regierungschefin Élisabeth Borne angekündigt hat, die umstrittene Pensionsreform ohne parlamentarische Abstimmung durchzusetzen, kam es zu spontanen Protesten und Ausschreitungen im ganzen Land. Demonstranten versuchten, Rathäuser und Präfekturen in Brand zu setzen. Mülltonnen und Autos brannten, Schaufenster wurden eingeschlagen. Innenminister Gérald Darmanin bestätigte, dass Drohungen gegen Politiker stark zugenommen hätten, bei Abgeordneten sei zudem gezielt der Strom abgestellt worden.
Seit Wochen gehen in Frankreich Hunderttausende gegen die Pensionsreform auf die Straße. Laut Umfragen wird die Anhebung des Antrittsalters von 62 auf 64 Jahre von drei Viertel der Bevölkerung abgelehnt. Die Durchsetzung ohne Abstimmung bezeichnen Kritiker als „Verhöhnung der Demokratie“. Doch Emmanuel Macron war klar, dass die für eine Mehrheit nötigen wenigen Stimmen der konservativen Opposition fehlten.
Wer stimmt dem Misstrauensantrag zu?
Das Durchpeitschen der Reform wird durch den Verfassungsartikel 49.3 ermöglicht. In begrenzten Fällen kann damit ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament durchgesetzt werden, wenn die Regierung anschließend ein Vertrauensvotum übersteht. Seit 1958 wurde der Artikel mehr als 40-mal genutzt. Bisher haben alle Regierungen die damit verbundenen Misstrauensanträge überstanden, da Links- und Rechtsfraktionen den gegenseitigen Anträgen nicht zustimmten. Doch den Misstrauensantrag aus der Mitte könnten Rechts- wie auch Linkspopulisten unterstützen. Éric Ciotti, Fraktionschef der konservativen Les Républicains (LR), hat versichert, dass seine Partei den Misstrauensantrag nicht unterstützen werde, um „Chaos“ im Land zu vermeiden. Offen ist, ob sich seine Fraktion geschlossen daran hält.
„Diese Reform ist notwendig“
Rechtspopulistin Marine Le Pen ruft mittlerweile zum Rücktritt von Regierungschefin Borne auf. Diese hatte vor der Reform selbst gesagt, dass der Rückgriff auf den Artikel 49.3 einem Scheitern gleichkäme. Obwohl sie die Verfassungsklausel bereits zum elften Mal einsetzte, könnte es dieses Mal zur Regierungskrise kommen, wenn am Montag über die Misstrauensanträge der Opposition abgestimmt wird.
Unter lauten Buhrufen und dröhnendem Geschmetter der Nationalhymne „Marseillaise“ hat Borne ihre Entscheidung verkündet. „Diese Reform ist notwendig“, sagte Borne. Sie könne nicht riskieren, dass die Reform abgelehnt werde, so ihre Begründung. „Die Zukunft unserer Pensionen kann nicht von einer Wette abhängen“.
Die Gewerkschaften wollen die Streiks fortsetzen und planen für Donnerstag nächste Woche bereits einen landesweiten Aktionstag. Nicht nur Regierungschefin Borne riskiert ihr Amt, auch für Präsident Macron steht sehr viel auf dem Spiel. Er wird aus der Kraftprobe mit der Straße in jedem Fall geschwächt hervorgehen. Vor allem wird das brachiale Vorgehen Konsequenzen für das politische Klima in Frankreich haben, wo die Politikverdrossenheit ohnehin groß und das Vertrauen in Institutionen sehr schwach ist.
Martina Meister (Paris)