Bereits vor dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini hieß Frau sein im Iran Folgendes: Vor Gericht braucht es zwei, um die Aussage eines Mannes aufzuwiegen. Sie ist die Hälfte wert. Frauen dürfen öffentlich weder tanzen noch singen und ob das verpflichtende Kopftuch korrekt getragen wird, kann von der Sittenpolizei täglich neu bewertet werden.
"Der Tod von Mahsa Amini ist das, was jede iranische Frau täglich fürchten muss. Es gibt keine klaren Grenzen, wie weit das Kopftuch nach hinten rutschen darf, es ist totale Willkür. Es mag sein, dass du an einem Tag das Kopftuch locker und fast als Schal trägst und es geht durch und am nächsten Tag trägst du es viel weiter vorne und es passt trotzdem nicht", schildert Bachmann-Preisträgerin Nava Ebrahimi (43).
Die in Graz lebende Autorin kennt das Leben dieser Frauen sehr gut, hat sie doch Freunde und Verwandte vor Ort. Sie ist im Iran geboren, ihre alleinerziehende Mutter floh in den 1970er-Jahren nach Deutschland. Das menschenverachtende Mullah-Regime, dem ihre Familie entkam, herrscht jetzt schon fast 44 Jahre. Und doch haben die Proteste, die seit dem 17. September 2022 nach dem Tod von Amini begannen (Anm.: Sie hatte das Kopftuch nicht korrekt getragen, wurde inhaftiert und war drei Tage später tot) eine andere, neue Kraft. "Seit 2009 gab es immer wieder Proteste, doch das Regime schlug alle nieder, aber jetzt ist vieles anders. Es gibt eine große Solidarisierung, ich würde sagen, es ist eine transnationale feministische Bewegung und im Iran selbst kommt neben der Solidarität vieler Gruppen und Männer auch noch die wirtschaftlich katastrophale Lage dazu."
"Männer sehen Haare und drehen durch"
Aber auch die Religion spielt eine Rolle, denn "ein Großteil der Bevölkerung ist mit dieser islamistischen Auslegung nicht einverstanden". Warum man etwa die Haare von Frauen als etwas so Gefährliches einstufe? "Also wenn eine Frau ihre Reize zur Schau trägt, dann können sich die Männer leider nicht mehr konzentrieren und drehen durch. Dann herrscht Chaos und eine Gesellschaft kann nicht funktionieren. Das ist der Grundgedanke, der natürlich auch Männer zu totalen willfährigen Schwächlingen degradiert, die es nicht mal mehr aushalten, Frauenhaar zu sehen." Doch diese Kontrolle von Weiblichkeit ist keine spezielle Eigenart des Islam. Macht über den weiblichen Körper zu erlangen, das sei, so Ebrahimi, weltweit in politischen Systemen zu beobachten. Und daher komme es auch zu dieser hohen globalen Solidarität. Länder, wie Polen, Ungarn, oder auch die neuen Abtreibungsverbote in den USA hätten am Ende nur ein Motiv: Kontrolle, die zu Politik wird. Der Kampf um Frauenrechte wird jetzt im Iran sichtbar, doch "Frauenrechte sind nicht in Stein gemeißelt. Bewegungen, wie #MeToo haben das gezeigt".
Seit September nehmen Frauen im Iran ihre Kopftücher ab, sie trotzen dem Regime und bezahlen einen hohen Preis. Mehr als 500 Menschen wurden bereits erschossen, andere verschwinden einfach. Eine gängige Praxis bei getöteten jungen Frauen oder Männern ist übrigens, Druck auf die Familien auszuüben. "Die Eltern bekommen nur dann den Leichnam, wenn sie sagen, die Tochter sei krank gewesen und deshalb gestorben oder sie hätte einen Unfall gehabt. Damit will man große, emotionale Begräbnisse verhindern." Seit Kurzem gibt es auch wieder Hinrichtungen und vielen der 18.000 inhaftierten Menschen droht die Todesstrafe.
Freizügige Bilder aus den 1970er-Jahren
Dass es auch einen Iran vor dem Mullah-Regime gab, wird deutlich, sieht man Bilder von Frauen aus den frühen 1970er-Jahren, die aktuell vor allem in den sozialen Medien verbreitet werden. Kein Kopftuch, westliche, freizügige Mode. Ebrahimi kennt diese Zeit, ihre Mutter war damals eine junge Frau, doch warnt sie auch vor der vorschnellen Botschaft dieser Bilder. "Ich finde es problematisch, zu sagen, ach, da konnten die schönen Perserinnen noch Miniröcke tragen. Damals war vor allem eine städtische Mittel- und Oberschicht betroffen, doch viele traditionelle Menschen lebten auch damals völlig anders. Die Schah-Familie wollte eine Modernisierung mit der Brechstange. Auch das muss man sehen, obwohl meine Mutter diese Zeit in schöner Erinnerung hat."
Nava Ebrahimi ist überzeugt, dass die Proteste sowie die ungebrochene globale Solidarität ausreichen werden, um das Mullah-Regime zu stürzen. Dabei helfen können auch Öffentlichkeit, wie Journalismus oder soziale Medien.
Ein Zitat, das Hannah Arendt zugeschrieben wird, taugt in diesem Fall vielleicht sogar als hoffnungsvolle Prophezeiung: "Alle Diktaturen wirken stabil, und das 15 Minuten bevor sie kollabieren."