Weihnachten ist immer ein Anlass, um auf die soziale Situation zu blicken. Was ist heuer anders?
MICHAEL LANDAU. Weihnachten bringt für viele ein zusätzliches Stück Sensibilität mit sich. Ich habe das Gefühl, dass die Bereitschaft zur Empathie um diese Zeit ein Stück größer ist. Ich nehme im Rückblick auf das Jahr wahr, dass es in Österreich einen guten Grundwasserspiegel der Nächstenliebe und Solidarität gibt.
Bringt die Teuerung nicht eine dramatische Verschärfung der Lage mit sich?
Weihnachten 2022 wird für nicht wenige Menschen ein noch schwierigeres Fest sein als in vergangenen Jahren. Wir haben die größte Teuerungswelle seit 70 Jahren. Wir sehen in unserer täglichen Arbeit, dass Armut ein Stück weiter in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Zunehmend stehen Menschen vor der Frage, ob sie etwas zum Essen kaufen, die Wohnung heizen, die Miete bezahlen sollen.
Die Armut frisst sich in den Mittelstand hinein?
Viele sagen, sie hätten sich nie gedacht, dass sie eines Tages unsere Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Schon vor Ausbruch der aktuellen Krise konnten 140.000 Menschen ihre Wohnungen nicht angemessen warmhalten.
Und heute?
Wir haben eine SORA-Umfrage gemacht. 54 Prozent sind besorgt bezüglich der Wohnungen, 52 Prozent beginnen sich beim Essen einzuschränken. Das ist ein sozialer Sprengstoff. Wenn ich an Mindest-Pensionisten denke, halte ich es für eine Schande, wenn sich diese in Österreich auf der Straße für einen Teller warme Suppe anstellen müssen. Vor 15 Jahren waren sieben Prozent der Gäste bei den Suppenbussen Mindest-Pensionisten, heute sind es etwa zwölf Prozent.
Das heißt, es braucht strukturelle Reformen?
Ich erwarte mir eine wesentliche Erhöhung der Mindestpension, also des Ausgleichszulagen-Richtsatzes. Wir messen die Teuerung heute in Metern vor der Lebensmittelausgabe und den Suppenbussen. Caritas Einrichtungen sind wie Seismografen und Sensoren einer Gesellschaft. Das Bild ist ein durchaus beunruhigendes.
Die Regierung rechnet vor, dass kaum ein zweites Land so viel aufwendet wie Österreich, rund 40 Milliarden.
Der Regierung ist etliches gelungen. Wenn ich an den Heizkostenzuschuss denke, halte ich das für eine zielgerichtete Hilfe. Ich reihe mich nicht in den Kreis der Kritiker ein, die sagen, es geschieht nichts. Die Regierung wird unter ihrem Wert geschlagen. Die beachtlichen Einmalzahlungen können strukturelle Maßnahmen nicht ersetzen, weil die Inflation nicht nur einmal, sondern Tag für Tag zuschlägt.
Woran denken Sie?
Der Sozialstaat hat sich bewährt, aber wir müssen ihn armutsfester machen. Ich will einen Punkt herausgreifen, der kaum diskutiert wird. Wir brauchen eine Abkehr von der Gießkanne und mehr zielgerichtete Hilfe. Das scheitert oft am Datenschutz. Ich halte diesen für wichtig, aber er darf nicht über der Not der Menschen stehen. Es kann nicht sein, dass wir keine vorhandenen Daten haben oder vorhandene nicht nützen können, um Menschen gezielt zu unterstützen. Wir brauchen auch eine Reform der Sozialhilfe, die Erhöhung der Notstandshilfe, des Arbeitslosengelds.
Das geht ins Geld?
Bei der Bankenkrise hat man gesagt "Too big to fail", zu Beginn der Coronakrise "whatever it takes." Man sollte dieselbe Entschlossenheit an den Tag legen, wenn es etwa darum geht, Menschen, die im Zuge von Corona ihre Ersparnisse aufgebracht haben und nun am Rande der Verzweiflung sind, zu helfen. Auch für diese Menschen gilt "too big to fail" und "whatever it takes". Es braucht einen Schutzschirm für solche Menschen.
Sie sorgen sich um den sozialen Zusammenhalt, gleichzeitig nimmt die Polarisierung deutlich zu?
Ich wünsche mir einen politischen Klimawandel, eine Kultur der Achtsamkeit und des Respekts. Ich richte die Bitte nicht nur an die Regierung, sondern auch an die Opposition, an Länder, Gemeinden. In Zeiten einer Rekordinflation können wir uns eine politische Stagnation nicht leisten, wenn es um langfristige Reformen geht. Ich denke nicht zuletzt an die Pflege.
Da hat man durchaus Geld in die Hand genommen?
Bisher hat es immer nur Ankündigungen gegeben. Das ist die erste Regierung, die das Thema seit mehr als zehn Jahren tatsächlich angegangen ist. Das ist hoch anzurechnen. Es kann nur ein Anfang sein. Man muss beim Pflegegeld noch einmal genau hinschauen, bei der 24-Stunden-Betreuung. Es gibt immer noch Lücken zwischen der mobilen und der stationären Pflege.
Das ist ein langer Forderungskatalog?
Als Caritas-Verantwortlicher muss ich klar sagen, dass wir uns mit der Not, die es auch in Österreich gibt, nicht abfinden dürfen. Unser Kernauftrag heißt: Not sehen und handeln. Wofür ich noch werben möchte, ist Zusammenhalt und Zuversicht. Der Zusammenhalt hat Österreich groß gemacht. Die Erfahrung lehrt mich auch: Wir können Krise als Hilfsorganisation und als Gesellschaft. Es wird der Tag kommen, an dem auch die aktuellen Krisen hinter uns liegen werden.
Haben Sie den Eindruck, dass der Zusammenhalt brüchig geworden ist?
Wenn ich den Demokratie-Monitor ansehe, sehe ich, dass Armut nicht nur mit Leid und Scham verbunden ist, sondern auch für die Demokratie eine Gefährdung darstellt. Im untersten Einkommensdrittel sagen 68 Prozent, dass ihre Meinung in der Demokratie nicht oder nicht ausreichend gehört wird. Der Preis, den wir zahlen, wenn wir nicht auf die Mitte, auch auf die Ärmsten achten, wäre ein hoher, auch für die Demokratie.