Der mutmaßliche Milliardenbetrug beim Skandalkonzern Wirecard soll nach Worten des Kronzeugen viele Jahre vor 2015 begonnen haben. Nach Darstellung des bis zum Wirecard-Zusammenbruch 2020 in Dubai tätigen Managers Oliver Bellenhaus war das sogenannte Drittpartnergeschäft (TPA) mit Zahlungsdienstleistern im Mittleren Osten und Südostasien von Beginn an zum allergrößten Teil erfunden.
"Die Daten waren zu keinem Zeitpunkt authentisch", sagt Bellenhaus am Mittwoch vor dem Landgericht München. "Es ist nicht zu erkennen, dass die Wirecard ohne das TPA-Geschäft vor 2015 profitabel gewesen wäre."
Die Anklage reicht nur bis 2015 zurück, da die Vorgeschichte verjährt ist. Über die TPA-Partner hatte Wirecard mutmaßlich erfundene Erlöse von fast zwei Milliarden Euro verbucht, die angeblich auf Treuhandkonten in Südostasien lagerten. Bellenhaus beschuldigt den früheren Vorstandschef, den Österreicher Markus Braun, der "Bandenführerschaft". Die wesentlichen Entscheidungen seien von Braun und dem seit Sommer 2020 untergetauchten Vertriebsvorstand Jan Marsalek, ebenfalls ein Österreicher, getroffen worden. Als Beleg verweist Bellenhaus auf Chatprotokolle, ausweislich derer Braun ihm Anweisungen gegeben haben soll.
Gravierende Anschuldigungen erhebt Bellenhaus auch gegen den dritten Angeklagten, den früheren Chefbuchhalter des Konzerns. Dieser sei ein "Treiber" des Betrugs gewesen. Laut Anklage bildeten die drei Manager gemeinsam mit weiteren Komplizen eine Bande, fälschten Wirecard-Bilanzen und schädigten kreditgebende Banken um 3,1 Milliarden Euro. 100 Verhandlungstage sind bis ins Jahr 2024 hinein anberaumt. Braun und der Ex-Chefbuchhalter bestreiten die Vorwürfe.
An einem vorangegangenen Prozesstag hatte Bellenhaus Wirecard als "Krebsgeschwür" bezeichnet. "Es gab ein System des organisierten Betrugs." Braun sei ein "absolutistischer CEO" (Chief Executive Officer) gewesen - die zentrale Macht bei Wirecard. "Dr. Braun sorgte dafür, dass wir alle in die gleiche Richtung segelten."
Braun und Bellenhaus sitzen seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Dritter Angeklagter ist der frühere Chefbuchhalter. "Ich bin erschrocken über mein eigenes Leben." Und: "Mir war nicht klar, dass ich mit den Ratten ins Bett gehen und mit der Pest aufwachen würde", sagt Bellenhaus über seine Verstrickung in den mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945 und die Mitangeklagten; ein Satz, den der Vorsitzende Markus Födisch rügte.
Wirecard war ein Zahlungsdienstleister, der hauptsächlich Kreditkartenzahlungen im Einzelhandel und im Internet abwickelte. Über das von Bellenhaus geleitete Tochterunternehmen Cardsystems Middle East in Dubai verbuchte Wirecard laut Anklage erfundene "Drittpartner"-Umsätze in Milliardenhöhe. Diese Drittpartner waren Firmen, die im Wirecard-Auftrag Zahlungen abwickelten.
Der Dax-Konzern brach dann im Juni 2020 zusammen, weil 1,9 Milliarden angeblich auf südostasiatischen Treuhandkonten verbuchter Drittpartner-Gelder nicht auffindbar waren.
Brauns Verteidiger will Prozess stoppen lassen
Damit Braun als Bandenchef oder auch nur -mitglied verurteilt werden kann, muss die Staatsanwaltschaft das Gericht überzeugen, dass er den Betrug steuerte beziehungsweise aktiv beteiligt war. Der Manager hat über seine Verteidiger erklären lassen, dass die vermissten Milliarden tatsächlich existiert hätten, aber immense Summen unter anderem von Bellenhaus auf die Seite geschafft worden seien.
Bellenhaus wies das kategorisch zurück. Die von Braun angeführten Milliardenbeträge auf den Konten ehemaliger Geschäftspartner sind nach seinen Worten höchstens zu einem kleinen Teil Wirecard-Gelder.
Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm will den Prozess stoppen lassen. Er wirft der Staatsanwaltschaft vor, viel zu spät mit der Untersuchung der tatsächlichen Zahlungsflüsse begonnen zu haben.
Die Verfahrensbeteiligten würden mit neuen Unterlagen überflutet, sagte der Anwalt - kurz vor Prozessbeginn 44.000 PDF-Seiten, danach noch weitere 11.000 Seiten. "Die Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft in zwei Jahren Verfahren versäumt hat und jetzt parallel zur laufenden Hauptverhandlung durchgeführt werden, sind ein Fass ohne Boden", sagte der Verteidiger. Dierlamms zweiter Vorwurf lautet, dass die Staatsanwaltschaft der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten habe.
Die Staatsanwaltschaft wies die Kritik zurück. "Die Akten zu dieser Anklageerhebung sind vollständig", erklärte die Ermittlungsbehörde auf Anfrage. Die von Braun und Dierlamm angeführten Milliarden auf den Konten ehemaliger Wirecard-Geschäftspartner betreffen demnach Geschäfte, die gar nicht Teil der Anklage und somit für das Verfahren irrelevant sind. Die Kammer hat noch nicht über den Aussetzungsantrag entschieden.