Wir alles wünschen uns Frieden für die Ukrainer und auch für die Russen, doch wir scheinen sehr weit davon entfernt zu sein. Wie könnte man aus Sicht des Diplomaten zu einem Frieden kommen?
EMIL BRIX: Beide Seiten erwarten sich derzeit noch militärisch einen Erfolg. Das ist keine gute Voraussetzung für Friedensverhandlungen. Aber es ist nicht so, dass es bisher gar keine gibt oder gab. Schon ganz am Anfang fanden ja sogar direkte Verhandlungen an der weißrussischen Grenze statt, die aber rasch gescheitert sind. Praktisch laufend finden Verhandlungen über den Austausch von Gefangenen oder von toten Soldaten statt. Beim Getreideabkommen gab es Erfolge. Und es gibt offene Kanäle zwischen den USA und Russland, was wichtig ist, um eine atomare Eskalation zu verhindern. Doch bis zu einer umfassenden Friedenslösung ist es noch weit. Solange die Lage auf dem Schlachtfeld offen ist, ist es sehr schwer, diplomatisch eine dauerhafte Lösung herbeizuführen.
US-Präsident Biden hat gestern erklärt, bereit zu Gesprächen mit Putin zu sein.
Es ist klar, dass eine stabile Lösung eine Einigung zwischen den USA und Russland mit einschließen muss, weil bei diesem Konflikt auch die Nato eine Rolle spielt und wir zudem sicherstellen müssen, dass von russischer Seite keine Atomwaffen eingesetzt werden. Beides kann nur in Gesprächen zwischen Russland und den USA geklärt werden. Es gibt hier aber keine sehr guten Signale. Geplante gemeinsame Abrüstungsverhandlungen etwa hat Moskau kürzlich hinausgeschoben. Die USA wiederum setzen auf Abschreckung gegenüber Russland, um einen Atomwaffeneinsatz zu verhindern, Gott sei Dank auch mit Erfolg. Doch es macht Gespräche nicht einfach.
Biden betont, dass nicht über den Kopf der Ukraine hinweg mit Moskau verhandelt wird.
Das ist etwas, worauf Washington absolut Wert legt – zu Recht. Auch aus Sicht Europas ist klar, dass die Existenz der Ukraine gesichert sein muss und es dafür Garantien geben muss. Verhandlungen müssen natürlich klären, wie man mit den jetzt besetzten Gebieten umgeht. Es gab ganz am Anfang die Idee, die Krim-Frage für 15 Jahre offenzulassen. Im Moment werden all diese Dinge intern auf beiden Seiten diskutiert, aber es wird nicht verhandelt.
Wie kann die Existenz der Ukraine überhaupt garantiert werden, wenn die Ukrainer eines Tages aufhören sollen, selbst dafür zu kämpfen?
Es kann eine völkerrechtliche Garantie geben, über einen Vertrag. Wie viel die gegenüber Russland wert ist, weiß man nicht. Schließlich gab es ja bereits Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die auch Russland der Ukraine in einem Vertrag schriftlich zugesichert hatte, das "Budapester Memorandum". Russland hat es nicht eingehalten. Für eine real wirksame Garantie ist es daher notwendig, dass es eine militärische Verteidigungsfähigkeit der Ukraine gegenüber Russland gibt – wie dies auch bei jedem neutralen Staat verankert ist. Die umfassende Landesverteidigung muss gegeben sein, weil die völkerrechtlichen Garantien nicht ausreichen.
Das würde bedeuten, dass man die Ukraine so aufrüsten müsste, dass sie militärisch gegen Russland bestehen kann.
Das ist das vielleicht nicht ganz angenehme, aber das wahrscheinlichste Szenario – dass es hier auch eine militärische Abschreckung gegenüber Russland geben muss. Wir haben in den letzten Monaten aber gesehen, dass die angeblich so starke russische Armee auch an ihre Grenzen stößt. Russland wird deutlich schwächer aus diesem Krieg hervorgehen, als es hineingegangen ist – militärisch, ökonomisch, politisch. Das heißt, es wird für die Ukraine in der Zukunft voraussichtlich leichter sein, sich selbst zu verteidigen, als es jetzt der Fall ist.
Wäre es dann nicht einfacher und billiger, die Ukraine in die Nato aufzunehmen und auf Abschreckung durch das Bündnis zu setzen? Auch wenn Russland das nicht will.
Auch das ist ein Szenario, das als Ergebnis dieses Prozesses durchaus möglich ist. Zugleich ist es eines, das man auf russischer Seite auf jeden Fall verhindern möchte, weil damit noch ein Nato-Staat an der russischen Grenze liegen würde. Das würde dem Narrativ widersprechen, das Putin verbreitet, nämlich, dass Russland sich wehren müsse gegen die Nato, gegen den Westen und gegen die Ausweitung einer Zone der liberalen westlichen Welt.
Falsifiziert der derzeitige Krieg nicht gerade die These, Russland sei durch die Nato gefährdet? Obwohl Russland die Ukraine angegriffen hat, obwohl einzelne Nato-Staaten die Ukraine unterstützen, obwohl gravierende Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen in den von Russland besetzten Gebieten geschehen, finden keine Kampfhandlungen auf russischem Gebiet statt, es gibt keine Überschreitungen der russischen Grenze.
Ja, aber das war ja letztlich schon vor Beginn des Krieges ein falsches Narrativ, weil die Nato in keinem einzigen Fall in der Vergangenheit russisches Territorium angegriffen hat. Der Kreml sagt, allein die Osterweiterung der Nato sei ein aggressiver Akt gegen Russland. Zugleich ist ganz klar, dass Russland auf ukrainisches Gebiet eingedrungen ist und dass die Ukraine hier einen Verteidigungskrieg führt.
Kann eine westliche Sicherheitsgarantie für die Ukraine noch glaubhaft sein, nachdem man jetzt sieht, dass der Westen nicht so stark eingreift, dass die Ukraine wirklich vor den russischen Angriffen geschützt wäre? Weder die Menschen noch die Infrastruktur?
In Europa gibt es nur eine glaubwürdige Verteidigung von Territorium durch den Westen – und das ist die Mitgliedschaft in der Nato. Eine gemeinsame EU-Armee ist beim derzeitigen Zustand der EU eine Illusion, der wir nicht nachhängen sollten, auch wenn ich dies persönlich bedaure.
Selenskyj fordert den vollständigen Abzug Russlands. Selbst wenn man die Krim-Entscheidung verschiebt: Gibt es überhaupt etwas, das die Ukraine bei Friedensverhandlungen anbieten kann? Kiew kann ja kaum auf ein Gebiet verzichten, in dem sich, wie derzeit, das größte Atomkraftwerk befindet, das wichtig für die Energieversorgung ist.
Selenskyj und seine Regierung können von ihrer Position nicht abrücken. Zum einen ist die Lage völkerrechtlich eindeutig: Es geht hier um ukrainische Gebiete, die von Russland angegriffen wurden. Zum anderen ist die ukrainische Regierung durch diese furchtbaren Kriegsmonate in einer Situation, wo sie angesichts der enormen Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung und der Opfer auf eigenes Staatsgebiet gar nicht verzichten kann.
Wird man für eine künftige Friedenslösung internationale Truppen zusagen, die die Lage absichern?
Bis 2022 war die OSZE als Institution in der Ostukraine, die versucht hat, die Frontlinie zu pazifizieren. Das ist gescheitert. In Zukunft würde man wohl eher an die UNO denken. Das wäre eine Situation, wo Österreich eine Rolle spielen könnte und, aus meiner Sicht, auch sollte.
Wenn man jetzt in Jahrzehnten denkt: Wie müsste eine Friedensordnung in Europa aussehen, damit sie hält?
Ich denke, die Einsicht, dass Russland dann stabil und sicher ist, wenn es mit der Europäischen Union zusammenarbeitet, wird sich in Moskau früher oder später einstellen. Putin hat ja am Anfang seiner Präsidentschaft selbst in diese Richtung argumentiert. Als er dann, aus meiner Sicht, eingesehen hat, dass ihm die Modernisierung der russischen Wirtschaft nicht so gelingt, wie er es sich vorgestellt hat, dass er zu viele innere Probleme der Machterhaltung hat, hat er schließlich darauf gesetzt, in Konfrontation zu Europa und dem Westen zu gehen. Das ist die Lage, in die er uns gebracht hat. Eigentlich müsste Russland Partner Europas sein, weil es nur auf diese Weise im Ringen zwischen den USA und China eine wirklich substanzielle Rolle spielen kann. Ob es noch Putin selbst sein wird, der zu diesem Schluss kommt, oder ein anderer im Kreml, werden wir sehen. Wir brauchen langfristig eine europäische Sicherheitsarchitektur mit Russland, es ist nicht anders vorstellbar.