Strenger Alkoholgeruch schlägt mir entgegen, als sich ein bärtiger Mann neben mir in den Flugzeugsitz sinken lässt. "Ich komme gerade aus Panama", sagt er unaufgefordert, "dort ist es schön warm. Wärmer als in Moskau." Es ist der Beginn eines viereinhalbstündigen Fluges von Istanbul nach Moskau. Die Reise dauert so lange, weil die Ukraine großräumig umflogen wird.
Mein russischer Sitznachbar hat einen kräftigen Händedruck und eine tiefe, kratzige Stimme. Wir kommen ins Gespräch, ich frage nach seinem Beruf. Matrose auf einem Containerschiff, antwortet der Mann. Nennen wir ihn Iwan, seinen echten Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Seit 20 Jahren ist Iwan fast ununterbrochen auf hoher See. Gerade hat er eine Schiffsladung Bananen nach Panama gebracht, jetzt hat er ein paar Monate frei, fliegt das erste Mal seit Langem zurück nach Russland. In einem Duty-Free-Sackerl auf seinem Schoss liegt eine kleine Wodkaflasche. Sie wird diesen Flug nicht überdauern.
Den Krieg, den sein Heimatland seit neun Monaten gegen die Ukraine führt, hat der Seemann bisher nur aus der Ferne mitbekommen. Das Internet am Schiff ist langsam, sagt er, und Nachrichten liest er ohnehin kaum. Trotzdem scheint er gut informiert zu sein. Auch dank seiner Crew: "Bei uns am Schiff arbeiten fast immer Russen und Ukrainer in derselben Besatzung zusammen. Der Krieg ist da oft Thema. Mir bleibt nichts anderes übrig, als meinen ukrainischen Kollegen mein Mitgefühl auszudrücken." Die russisch-ukrainische Kameradschaft am Schiff funktioniert aber weiterhin problemlos. Auf See gibt es weder Religionen noch Nationalitäten, sagt Iwan. Denn alle sitzen im selben Boot.
Zu groß ist der Hass auf Russland
Am Festland ist das anders. Iwans halbe Verwandtschaft lebt in der Ukraine, mit ihnen ist angesichts der ständigen russischen Angriffe kaum mehr Kommunikation möglich. Zu groß ist der Hass auf Russland und seine Bevölkerung, die kaum mehr Widerstand gegen Putins Regime wagt. Zwischen zwei einst eng verflochtenen Völkern klaffen heute unüberwindbare Gräben. "Meine ukrainischen Verwandten reden mit mir, als stünde ich selbst im Schützengraben und würde auf sie schießen. Ich weiß nicht, was ich damit zu tun habe, was die russische Armee dort verbricht."
Es ist ein häufiges Phänomen, dass Russinnen und Russen keinen Zusammenhang sehen zwischen sich selbst und dem Handeln ihrer politischen Führung. Wladimir Putin hat mit der Abschaffung echter Wahlen, freier Medien und bürgerlicher Freiheiten in den vergangenen zwei Jahrzehnten alles dafür getan, seiner Bevölkerung das Interesse für Politik auszutreiben. Die Folge ist, dass sich die Menschen ins Private zurückziehen – und sich für die Handlungen ihrer Regierung weder verantwortlich sehen noch dagegen protestieren.
Mein Sitznachbar Iwan ist da keine Ausnahme. Schicksalsergeben sagt er kurz vor der Landung in Moskau: "Ich weiß absolut nicht, was mich jetzt in Russland erwartet. Vielleicht geben sie mir am Flughafen schon einen Einberufungsbescheid für den Kriegsdienst. Oder ich kann noch mit dem Zug nach Hause fahren zu meiner Frau." Dass die Teilmobilmachung inzwischen offiziell vorbei ist, hat Iwan entweder am Schiff nicht mitbekommen. Oder er traut, so wie die meisten seiner Landsleute, keinem Wort, das aus dem Kreml kommt. Verunsicherung statt Euphorie, Pessimismus statt Patriotismus – das ist alles, was Putin mit seiner "Spezialoperation" bei einem großen Teil der russischen Bevölkerung bisher erreicht hat.
Paul Krisai