Ligafußball bis kurz vor WM-Ankick – wie ist es da mit der Vorfreude bei Experten bestellt?
Jan Age Fjörtoft:Ich bin ja selbst noch am Wochenende in der Premier League als Experte im Einsatz. Und was die WM betrifft, sind wir in der Phase, die mit Sport sehr wenig zu tun hat – man redet über Menschenrechte und alles andere. Aber das wiederum zeigt ja auch die Stärke des Fußballs, dass man mit ihm solche Dinge herausstreichen kann. Die Freude auf die WM? Die kommt in der Woche davor ...
Steffen Freund:Ich halte es mit Jürgen Klopp, der gesagt hat, dass man sich über die WM beschweren hätte müssen, als sie vergeben wurde – und wir wissen alle, wie es soweit kommen kann. Ich war ein Gegner, sie dort zu spielen. Auch ich bin am Wochenende noch bei zwei Spielen als Experte im Einsatz.

ServusTV macht mit dem Claim „Fest für Fußballfans“ Werbung. Wird es das?
Fjörtoft: Abseits des Feldes: Ich respektiere es ja, wenn man das nicht so sieht, wenn man es nicht ansieht. Aber man darf die Spieler nicht dafür verantwortlich machen. Sie haben auch das Recht, etwas zu sagen zur Situation, zur Politik, aber sicher nicht die Pflicht, es zu tun. Sportlich wird es ein Fest, weil die besten Spieler der Welt da sind. Das passiert im Fußball nur alle vier Jahre. Ich bin ein Sport-Nerd – und kann sagen: Biathlon hat für mich die WM entwertet, weil es sie jährlich gibt...
Freund:Die besten Spieler der Welt bei einem Turnier zu sehen, das ist immer schön. Wem das nicht gefällt, der hat den Fußball an sich nicht geliebt. Und wenn man sich die Gruppen anschaut: Das wird schon interessant, weil du sofort funktionieren musst.

Für einen Spieler – ist die WM tatsächlich so viel mehr als der Klub?
Fjörtoft: Schau dir an, wie die Brasilianer gejubelt haben, die einfach nur dabei waren! Ich war auch Teammanager in Norwegen und habe den Spielern immer gesagt: Nach der Karriere reden sie nicht davon, wie viel Geld du am Konto hast. Sondern davon, was du im Team erreicht hast. Schau dir Lionel Messi an: Der hat so viele Titel, so viele Ballon d’Or – aber alle sagen, er war nicht Weltmeister. Ich war ein paar Mal Kapitän des norwegischen Teams. Dieses Gefühl, der Stolz, für eine  Nation am Platz zu stehen, der positive Nationalismus, der leider von der rechten Politik so sehr vereinnahmt und ins Negative gedreht wird, das hat was.
Freund: Also die Spieler, die in Deutschland am Donnerstag nominiert wurden, für die war es ein Freudentag. Es gibt nichts Größeres, als bei einer WM zu spielen.

Bei einer WM gab es zuletzt immer Neues im Fußball. Auch diesmal?
Fjörtoft: Die Vorbereitungszeit ist kurz. Aber auch bei Manchester City und Pep Guardiola gab es zuletzt viel Evolution. Ich bin gespannt, ob wir etwa ein Comeback des kompakten Fußballs sehen, weniger Pressing. Auch wegen des Wetters.
Freund: In Russland sind 51 Prozent aller Tore aus bzw. nach Standards gefallen. Ich denke schon, dass die Spiele vielleicht langsamer sein werden. Aber es wird sicher Neues geben, es braucht Flexibilität.

Wer wird Weltmeister? Das beste System oder die Mannschaft mit den besten Individualisten?
Fjörtoft: Bei der WM kommt es oft auf den einen Spieler an, so wie 1978, als der berühmte Vienna-Spieler Mario Kempes den Unterschied machte (lacht). Für mich wird schon die Frage sein: Wer hat den Neuner vorne, den Vollstrecker, der die Tore schießt?
Freund: Es geht nur über das Team. Vor allem, weil es ohne Pause in die WM geht. Du brauchst den ganzen Kader, der Trainer muss alle zusammenhalten. Wenn ich da an Brasilien oder Frankreich denke, das wird eine Kunst, alle ruhig zu halten, die nicht spielen im ersten Spiel.
Fjörtoft: Ich glaub, du hast die Frage nicht verstanden...
Freund: Wieso? Ich sage ja, dass darum geht, Individualisten zu haben, die sich ins Team einfügen. Da sitzen 15 auf der Bank pro Spiel – und wir wissen: Der Spirit im Team ist oft entscheidend.
Fjörtoft: Das war aber nicht die Frage, insofern war die wohl schlecht ...

Ich denke, die Frage war ganz gut, so sehr wie Sie beide diskutieren. Themenwechsel: Gibt es einen Außenseiter, der überrascht?
Freund: Wüsste ich das, würde ich ja drauf wetten. Es gab sie immer, keine Frage. Ich war aber mit Berti Vogts schon Trainer in Nigeria, ich weiß, warum es etwa für afrikanische Mannschaften in so einem Turnier schwierig ist. Aus Europa fiele mir Dänemark ein.
Fjörtoft: Die Afrikaner haben den Nachteil der fehlenden Geschichte, der fehlenden Infrastruktur. Ich denke, Uruguay wird stark, das ist ja auch für Norwegen interessant, die haben ja weniger Einwohner als wir.

Apropos Norwegen: Wie sehen Sie die Rolle ihrer Verbandspräsidentin Lisa Klaveness, Herr Fjörtoft? Sie ist die große Kritikerin dieser WM in Katar aus dem Fußballlager.
Fjörtoft: Es gibt über 200 Präsidenten, ganz wenige davon sind Frauen. Ich weiß, was das kostet, dass sie das macht – und nicht nur das, sie steht ja auch zu ihrer Homosexualität. Ich würde mich freuen, wenn auch die FIFA verstehen würde, wie wichtig sie und ihre Kritik sind. Viele sorgen sich wegen dieser WM. Wir Norweger sind jedenfalls stolz auf sie!